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Tempolimit auf der Nordschleife 2015: Aktionismus oder Notwendigkeit?
Tempolimit auf einer Rennstrecke! - Der Aufschrei war gigantisch - Mit der Distanz von zehn Jahren fällt die Bewertung der Maßnahmen aber positiv aus
(Motorsport-Total.com) - Die Pistole war dem damaligen DMSB-Präsidenten Hans-Joachim Stuck auf die Brust gesetzt: FIA-Chef Jean Todt, für den Sicherheit oberste Priorität hatte, drohte Stuck mit dem Entzug der Streckenlizenz für die Nürburgring-Nordschleife, wenn keine Maßnahmen ergriffen würden. Ein tödlicher Unfall war für Todt der absolute Worst Case.

© ADAC Nordrhein
Das Tempolimit auf der Nürburgring-Nordschleife blieb zum Glück ein kurzes Intermezzo Zoom
Die Logik dahinter: Die GT3-Fahrzeuge hatten eine Entwicklung genommen, die jener der Formel 1 in den 1970er- und der Gruppe C in den 1980er-Jahren ähnelte. Beide Klassen wurden schlicht zu schnell für die Nordschleife. Dass sich ab 2016 ein Performance-Plateau einstellen würde, war damals nicht absehbar - die GT3-Boliden wurden jedes Jahr schneller.
Es musste schnell gehandelt werden. Keine 24 Stunden nach dem Unfall wurde der Betrieb von Fahrzeugen der Klassen SP7, SP8, SP9, SP10 und SPX auf der Nordschleife untersagt - ein herber Einschnitt, der einige Hersteller einen Testtag kostete.
Damit ergab sich aber ein Problem. Für den Fall, dass das 24-Stunden-Rennen tatsächlich nicht mit GT3-Boliden stattfinden könnte, hätten die deutschen Hersteller zumindest gerne die GT4-Klasse als Topklasse gesehen. Allerdings waren diverse Fahrzeugklassen noch schneller. Das 24h-Qualifikationsrennen stand bereits am 11. April auf dem Programm, Eile war geboten.
Nur zwei Tage später, am 31. März 2015, wurde die Liste gesperrter Klassen daher erweitert. Die SP10, also GT4-Klasse, wurde wieder zugelassen, dafür galt das Embargo nun auch für Fahrzeuge der Kategorien Cup2 (Porsche 911 GT3 Cup), H4 und der drei Klassen der E1-XP, die es damals noch gab. So war ein 24-Stunden-Rennen mit GT4-Fahrzeugen als Topklasse möglich.
Runder Tisch ohne Denkverbote
Um eine langfristige Lösung zu finden, berief Stuck einen "runden Tisch" ein. Rund 15 Vertreter des DMSB, des Nürburgrings, der Autohersteller, Fahrer (Profis und Breitensportler) sowie weitere Experten diskutierten mögliche Maßnahmen. Ziel war es, den GT3-Rennsport auf der Nordschleife zu retten.
"Alles kommt auf den Prüfstand. Es wird keine Denkverbote geben", lautete die Ansage des DTM-Meisters von 1990. Das Osterwochenende 2015 war ein Arbeitswochenende für den runden Tisch, denn schon am Wochenende darauf stieg das 24h-Qualifikationsrennen. Die FIA mischte sich nicht unmittelbar ein, wollte aber überzeugt werden.
Allen war klar: Eine Rückkehr zum Stand vom 28. März 2015 war unmöglich. Sonst hätte die FIA das Sicherheitszertifikat der Nordschleife herabgestuft - mit schweren Folgen für den Rennsport.
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Karl Mauer, damaliger VLN-Chef, bekräftigt im Gespräch mit Motorsport-Total.com, dass die Haltung des DMSB keineswegs feindselig war, wie es damals von manchen Seiten dargestellt wurde: "Unsere Gespräche waren sehr konstruktiv. Der DMSB hat uns nicht gedroht, unsere Serie zu beenden."
Der DMSB hatte in der Motorsportszene damals nicht den besten Ruf. Zu bürokratisch, zu sehr am Motorsportler vorbei, zu zahm in einer Zeit, in der die Klimabewegung Fahrt aufnahm. Mauer hat ein positiveres Bild: "Es wurde viel über den DMSB geschimpft. In meiner Zusammenarbeit mit dem DMSB habe ich eigentlich immer nicht nur ein offenes Ohr gefunden, sondern auch mit dem DMSB Lösungen erarbeitet."
Die Vorschläge in der Runde waren vielfältig: Schikanen wurden ins Spiel gebracht, etwa auf Höhe der Touristenfahrer-Einfahrt. Doch das hätte einen langwierigen Genehmigungsprozess erfordert und die Faszination Nordschleife im wahrsten Sinne des Wortes schikaniert.
Das Maßnahmenpaket: Ein Kompromiss
Schließlich setzte sich das Tempolimit als Übergangslösung durch. Ein fast widersinniger Vorschlag auf den ersten Blick, doch nüchtern betrachtet war es eine schnell umsetzbare, einfache und effektive Maßnahme. Und anders als eine Schikane konnte sie problemlos wieder rückgängig gemacht werden.
Die festgelegten Tempolimits lauteten:
- 200 km/h im Bereich Quiddelbacher Höhe/Flugplatz
- 250 km/h in den Abschnitten Schwedenkreuz und Döttinger Höhe
Am 7. April 2015 wurde das Maßnahmenpaket verkündet, das neben den Tempolimits weitere Punkte umfasste. "Wir haben uns mit diesen Maßnahmen Zeit erkauft", sagt Mauer. Das galt für die VLN, vor allem aber für das 24-Stunden-Rennen, das nun mit GT3-Boliden stattfinden konnte.
Die weiteren Punkte des Pakets:
- Leistungssenkung der GT3-Boliden um fünf Prozent
- Sperrung bestimmter Zuschauerbereiche, unter anderem am Flugplatz
- GPS-Kontrolle der Geschwindigkeit
- Einsetzung einer Expertenkommission mit vier Arbeitsgruppen (Sportreglement, Fahrer, Technik und Strecke) für weitere Maßnahmen
Die Reaktionen waren erwartungsgemäß heftig. Jürgen Alzen sprach vom "Nordschleifen-Suizid" und zog sich aus der Serie zurück. Ein anderes Mitglied eines bekannten Teams kommentierte Jahre später: "Wenn heute jemand stirbt, erwarte ich von einem DMSB, dass er sich morgen hinstellt und der Öffentlichkeit erklärt, warum Motorsport geil ist, und nicht so etwas."
Der Großteil der Sportler war erst einmal froh, dass weitergefahren werden konnte. Die einzige Befürchtung war, dass das Provisorium ein Dauerzustand werden könnte. Hier hätte vielleicht etwas mehr getan werden können, zu versichern, dass das Tempolimit 2016 wieder verschwinden würde, oder dies zumindest das absolute Ziel war. (Diese Aufgabe übernahmen die Medien)
Der Weg zur Aufhebung des Tempolimits
Ein schwerer Unfall bringt immer auch die Gelegenheit, andere sicherheitsrelevante Aspekte, die schon länger drücken, anzugehen. Ein Beispiel war, dass das individuelle Tempo bei doppelt gelb geschwenkte Flaggen Interpretationssache war. Marshals fühlten sich durch doppelt Gelb nicht ausreichend geschützt. Auch an solchen Themen wurde gearbeitet.
Alexander Gerhard, Sprecher des Nürburgrings damals wie heute, sagt gegenüber Motorsport-Total.com dazu: "So ein Vorfall führt dazu, dass man Dinge nochmal anders betrachtet und versucht, verschiedene Attribute sicherer zu machen." Auch wenn diese mit dem Unfall an sich überhaupt nichts zu tun hatten.
Im August 2015 wurden erste bauliche Maßnahmen präsentiert - ein wichtiges Zeichen nach außen, dass aktiv an Lösungen gearbeitet wurde. Die Abtragung der Sprungkuppe stieß bei Puristen erwartungsgemäß auf Kritik, doch in der Praxis gab es spektakuläre Bilder von Rädern in der Luft auch noch danach.
Insgesamt wurden 16 Maßnahmen für die folgenden Winter beschlossen, darunter:
- Neuasphaltierung kritischer Bereiche
- Errichtung von Zuschauer-Sicherheitszonen
- Zusätzliche FIA-Sicherheitszäune
Im Dezember 2015 folgte die erlösende Nachricht: Die Tempolimits werden zur Saison 2016 aufgehoben. Die Leistungsbeschränkung der GT3-Boliden blieb hingegen erhalten. Zudem wurden Luftöffnungen in den Kotflügeln vorgeschrieben, um die Hebewirkung an der Vorderachse zu reduzieren.
Zur Saison 2017 folgten weitere aerodynamische und reifentechnische Anpassungen. Ab 2017 musste der Heckflügel wahlweise um zehn Zentimeter verkleinert oder zehn Zentimeter nach vorn versetzt werden - oder ein Kompromiss aus beiden Maßnahmen. Entwicklungsreifen wurden verboten.
Mittlerweile sind diese teuren "Nordschleifen-Pakete" an den GT3-Boliden nicht mehr notwendig. Das aerodynamische Set-up wird über die Balance of Performance geregelt. So lassen sich auch die Rundenzeiten kontrollieren.
Die geplante Messung der Bodenfreiheit per Messrolle im Rennbetrieb scheiterte spektakulär. Bereits am Abend des 24-Stunden-Rennens 2017 war die Rolle durch einen ondulierten BMW irreparabel beschädigt. Noch eine Anekdote, die in den Annalen des Nürburgrings in der Rubrik Komödie einen Platz gefunden hat.
Nicht nur die Boliden an sich und die Strecke wurden überarbeitet. Auch das DMSB Permit Nordschleife (DPN) wurde weiterentwickelt, was zu einem Konflikt mit der Fahrer-AG und Boykott-Androhungen Anfang 2016 führte. Ein verbindliches Tempo von 120 km/h bei doppelt gelb geschwenkten Flaggen wurde eingeführt, wodurch Auffahrunfälle bei Code 60 verhindert wurden.
Kein tödlicher Unfall seit zehn Jahren
Die Sicherheitsstandards wurden nachhaltig verbessert. Seit zehn Jahren hat es auf der Nordschleife bei Rennveranstaltungen keinen tödlichen Unfall mehr gegeben. Die getroffenen Maßnahmen haben wahrscheinlich weitere Tragödien verhindert - etwa beim schweren Unfall des Rowe-BMWs ausgangs Fuchsröhre 2024 oder beim Vanthoor-Brudercrash 2022, als Fahrzeuge direkt am Streckenposten einschlugen.
Weitere positive Entwicklungen entstanden aus der Situation. Aus der Fahrer-AG entstand die Teamvereinigung ILN. Die Geschwindigkeits-Überwachung blieb erhalten, das GPS-Auge ist heute eine große Hilfe für Zuschauer, Streckensprecher, Rennleitung und die Teams, die jederzeit über jede Code 60 bescheid wissen und ihre Strategie anpassen können.
Das Tempolimit ist längst nur noch eine Erinnerung, obschon es die Aufkleber bis heute im Fanshop zu kaufen gibt. Es wird mit Humor betrachtet. War es Aktionismus? Vielleicht ein bisschen. Hat es Schlimmeres verhindert? Definitiv. Die Alternative hieß: GT3-Boliden raus. Es war unterm Strich gelungenes Krisenmanagement, vielleicht sogar ein Musterbeispiel.
Letztlich bleibt festzuhalten, dass der runde Tisch es geschafft hat, den GT3-Sport langfristig auf der Nordschleife zu erhalten, und das zum geringstmöglichen Preis. Die Faszination Nordschleife ist nach wie vor gegeben, dabei ist sie sicherer denn je. Und in Selbstgefälligkeit ist auch zehn Jahre nach der Tragödie niemand verfallen.
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