Heute vor zehn Jahren: Der tödliche Nürburgring-Unfall am Flugplatz

Am 28. März 2015 geschah eine Katastrophe, deren Folgen bis heute reichen - Jahrestag zum Unfall von Jann Mardenborough im Nissan GT-R auf der Nordschleife

(Motorsport-Total.com) - Ein Aufschrei unter den Zuschauern, ein lautes, mehrfaches Krachen, und drei Worte, die unabhängig jedem Zuschauer über die Lippen fuhr oder zumindest durch den Kopf ging: "Ach. Du. Scheiße." - Panisch rennen Menschen zur Unfallstelle, rufen durcheinander. Ein Zuschauer liegt leblos am Boden, ein paar Meter weiter liegt ein Schrotthaufen, aus dem Jann Mardenborough zum Glück ohne schwere Verletzungen, aber sichtlich unter Schock rauskommt.

Titel-Bild zur News: Der Nissan GT-R Nismo GT3 von Jann Mardenborough verunfallte am 28.März 2015 im Streckenabschnitt Flugplatz und tötete einen Zuschauer

Der Nissan GT-R Nismo GT3 von Jann Mardenborough verunfallte am 28.März 2015 im Streckenabschnitt Flugplatz und tötete einen Zuschauer Zoom

Am 28. März 2015 um 12:51 Uhr in der siebten Runde des VLN-Saisonauftakts bekam der Nissan GT-R Nismo GT3 des damals 23-jährigen Briten im Streckenabschnitt Flugplatz Unterluft, wurde von einem Reifenstapel ausgehebelt, flog über den FIA-Sicherheitszaun und erfasste mehrere Zuschauer, einen davon tödlich. Mardenborough blieb unverletzt.

Die Motorsportwelt stand völlig unter Schock. Auf der Nürburgring-Nordschleife war mit wirklich allem zu rechnen. Aber dass es einen Zuschauer treffen würde, hatte niemand erwartet. In bis dahin 38 Jahren VLN-Langstreckenmeisterschaft (heute Nürburgring-Langstrecken-Serie; NLS) hatte es das noch nie gegeben.

Krisenstab im berüchtigten Raum

"Es gibt Ereignisse, bei denen jeder weiß, wo er gerade war, als es geschah", sagt Nürburgring-Sprecher Alexander Gerhard gegenüber Motorsport-Total.com, in dieser Funktion auch schon damals tätig. "Ich weiß noch genau, wie ich aus dem Fahrerlager am Boxengebäude vorbei die rote Flagge gesehen habe - ohne Regen oder Nebel. Das hat gleich ein ungutes Gefühl ausgelöst."

Sehr schnell wurde aus den Meldungen des Streckensicherungspersonal klar, dass es nicht nur ein schwerer Unfall war. "Unfall mit Personenschaden" - drei Worte aus dem Bürokratendeutsch, die jeden erschaudern lassen, der diese Sprache auch nur einigermaßen spricht. Der Zuschauer wurde professionell versorgt, erlag aber im Medical Center seinen Verletzungen.

Die 61. ADAC Westfalenfahrt, geplant als heiterer Auftakt in eine weitere Motorsportsaison auf der Nürburgring-Nordschleife, war zum Albtraum geworden, dessen Folgen weit über die Saison 2015 hinausgehen sollten.


Nürburgring-Unfall 2015: Jann Mardenborough hebt ab

Sofort wurde gehandelt. Der damalige VLN-Chef Karl Mauer musste zu einem berüchtigten Gegenstand greifen, wie er gegenüber Motorsport-Total.com erzählt: "Wir haben uns mit dem Rennleiter schnell sortiert und uns in einen separaten Raum zurückgezogen. Ich hatte immer einen Schlüssel für einen eigenen Raum, der genau für solche Situationen gedacht war."

Es war wichtig, zu sortieren. In Krisensituationen machen schnell Gerüchte die Runde, ob wahr oder unwahr. Jede Minute neue Informationen, alles läuft durcheinander, "wie auf dem Hühnerhof", wie Mauer sagt. Daher wurde im Krisenstab sofort alles auf sachliche Weise geordnet. Letztlich blieb nicht viel mehr, als die Message genau abgestimmt an die Presse zu übergeben.

Krisenkommunikation auf höchstem Niveau

Mit Gerhard und Patrik Koziolek, damals wie heute Sprecher der VLN, wurde das Wording formuliert. Mauer ist selbst Kommunikationsexperte aus seiner Zeit bei Opel. Es sind diese Momente, die trotz aller Emotionen äußerste Professionalität verlangen. Schließlich trat Mauer vor die Kameras und bestätigte, was im Fahrerlager schon gerüchteweise kursierte.

"Wir haben 51 Minuten nach dem Start des Rennens eine Unfallmeldung erhalten. Die Meldung besagte, dass am Streckenabschnitt Flugplatz ein Teilnehmerfahrzeug verunglückt sei, die Streckenbegrenzung durchbrochen habe und in einen Zuschauerbereich vorgedrungen sei", so Mauers Worte.

"Wir haben daraufhin sofort alle Rettungsmaßnahmen in die Wege geleitet. Es wurden in der Tat mehrere Zuschauer verletzt, einer davon sehr schwer. Er wurde an Ort und Stelle unfallmedizinisch behandelt. Er wurde dann ins Medical Center hier an der Rennstrecke gebracht, wo er allerdings leider - und das tut uns sehr, sehr leid - trotz aller ärztlicher Bemühungen verstorben ist."


61. ADAC Westfalenfahrt: Karl Mauer tritt vor die Presse

Damit war die Message raus. Weltweit machte der tödliche Unfall Schlagzeilen. Dass es einen Zuschauer getroffen hatte, sorgte für eine noch größere Verbreitung, als wenn es ein Fahrer gewesen wäre.

Mediale Vorverurteilung Mardenboroughs

Die Presse hatte den Schuldigen schon ausgemacht. "Todesfahrer kam durch Playstation-Sieg ans Steuer", titelte die Welt noch am Tag des Unfalls. Jann Mardenborough wurde beschuldigt, wie auf der Playstation voll draufgehalten zu haben, ohne die Fahrdynamiken in der Realität zu kennen.

Doch Mardenborough hatte erstens zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre Erfahrung im realen Motorsport (anders als im Film Gran Turismo dargestellt, wo der Unfall aus dramaturgischen Gründen weiter an den Beginn seiner Karriere gezogen wurde), und zweitens wurde er nie schuldig gesprochen.

Außerdem wusste er sehr wohl, was er tat, wie Karl Mauer erklärt: "Er hat sich [über die Runden] sukzessive ans Limit herangetastet. Er ist auf dem Gas geblieben, hat aber mit dem linken Fuß jedes Mal die Bremse angetippt, um die Frontpartie runterzudrücken. Das hat er immer sanfter gemacht, bis er versucht hat, ohne Antippen durchzufahren."


Nürburgring-Unfall 2015: Nissan GT-R fliegt in die Zuschauerränge

Eine Reihe ungünstiger Faktoren trugen zum Unglück bei: Zwei Bodenwellen vor der eigentlichen Kuppe, ein leerer Tank, der das Fahrzeug leichter auszuhebeln machte, das aerodynamische Konzept des Fahrzeugs, und womöglich eine Windböe aus der falschen Richtung.

Die Staatsanwaltschaft Koblenz ermittelte, zu einem Gerichtsverfahren kam es allerdings nie. Wie so oft im Motorsport des 21. Jahrhunderts musste ein tödlicher Unfall nach den Ermittlungen als "Freak Accident" abgelegt werden.

Maßnahmenpaket rettet GT3-Sport auf der Nordschleife

Für den Motorsport auf der Nürburgring-Nordschleife stand viel auf dem Spiel. Noch am Abend des Unfalls bekam der damalige Vorsitzende des Deutschen Motor Sport Bundes (DMSB), Hans-Joachim Stuck, einen Anruf von FIA-Präsident Jean Todt. Für diesen hatte Sicherheit bekanntermaßen die absolut oberste Priorität und ein tödlicher Unfall war das Worst Case Scenario.

Die Message war klar: Tut etwas, oder der Nordschleife wird die Lizenz entzogen. Der DMSB handelte sofort: Schon 24 Stunden später wurde ein vorläufiges Verbot der schnellsten Klassen (SP7, SP8, SP9, SP10, SP-Pro und SPX) verhängt. Dadurch mussten Testfahrten in der Vorbereitung auf das 24-Stunden-Rennen abgesagt werden, das nur eineinhalb Monate später stattfinden sollten.

Das 24-Stunden-Rennen selbst stand ebenfalls auf der Kippe. Der DMSB lud deshalb nur wenige Tage nach dem Unfall zu einem "runden Tisch". "Keine Denkverbote" versprach Stuck beim runden Tisch, zu dem DMSB-Sicherheitsexperten, Rennfahrer, Herstellervertreter und der Nürburgring geladen waren. "Alles kommt auf den Prüfstand."

Tempolimit

Das Tempolimit galt für die komplette Saison 2015 und wurde danach abgeschafft Zoom

Es mussten schnellstens Maßnahmen getroffen werden. Zunächst wurde das Verbot auf die Klassen Cup2, H4 sowie die drei E1-XP-Klassen ausgeweitet, dafür die GT4-Klasse wieder zugelassen. So hätte das 24-Stunden-Rennen notfalls mit der SP10 als Topklasse stattfinden können.

Schon eine Woche später wurde ein Maßnahmenpaket präsentiert. Die verbotenen Klassen wurden wieder zugelassen. An drei Stellen wurden Tempolimits von 200 und 250 km/h verhängt. 200 km/h an der kritischen Kuppe, 250 in den Abschnitten Schwedenkreuz und Döttinger Höhe. Zusätzlich wurde mittels Luftmengenbegrenzern die Leistung der SP9-Boliden um fünf Prozent reduziert. Die FIA gab grünes Licht.

Der Aufschrei war riesig. Ein Tempolimit auf einer Rennstrecke, das war etwa so passend wie ein Kampfpanzer auf einer Friedensdemo oder ein Trinkspiel in einer Entzugsklinik. Doch es war die einzige Möglichkeit, mit der überhaupt so schnell wieder Rennsport mit Spitzenfahrzeugen betrieben werden konnte. Die Ermittlungen dauerten ja noch an.

Das 24-Stunden-Rennen ging unter den neuen Bedingungen problemlos über die Bühne. Die Tempolimits blieben vorerst bestehen, bevor sie Anfang zur Saison 2016 wieder verschwanden. Die kritische Kuppe wurde abgetragen. Die verringerte Leistung der GT3-Boliden gilt bis heute. Seitdem hat es bei Rennen auf der Nürburgring-Nordschleife keinen tödlichen Unfall mehr gegeben. Die Strecke wird dennoch immer sicherer gemacht.

Auch die Betroffenen haben ihren Frieden mit der Sache gemacht. Die damalige Partnerin des Todesopfers kommt bis heute zu den Rennen der Nürburgring-Langstrecken-Serie. Und Jann Mardenborough setzte seine Karriere in Japan fort. Er ist bis heute im Rennsport aktiv, wenn auch in jüngerer Zeit eher sporadisch.

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