Wer letzte Nacht am schlechtesten geschlafen hat: Lance Stroll
Was der Boxenfunk nach dem Grand Prix von China darüber verrät, wie sehr Aston Martin an Realitätsverweigerung leidet, wenn es um den "Juniorchef" geht
Liebe Leserinnen und Leser,
© Motorsport Images
Wie Lance Stroll von seinem Team geschützt wird, mutet manchmal etwas peinlich an Zoom
es braucht schon einiges, um Daniel Ricciardo, den Sonnyboy von der australischen Westküste, aus der Fassung zu bringen. Aber als ihm Lance Stroll am Sonntag in Schanghai beim Anbremsen von Kurve 14, wohlgemerkt unter Safety-Car, ins Heck rauschte, da war es vorbei mit seinem sonnigen Gemüt.
"Was für ein verdammtes Arschloch, Mann", waren die ersten Worte, die ihm am Boxenfunk über die Lippen kamen.
Überhaupt sagt der Boxenfunk sehr viel aus über den Ricciardo-Stroll-Zwischenfall beim Grand Prix von China, und darüber, wie krampfhaft man bei Aston Martin versucht, den "Juniorchef", wie man bei mir zu Hause im österreichischen Mühlviertel flapsig zum eher belächelten Sohn des mächtigen Firmeneigentümers sagt, zu schützen.
Boxenfunk: Du bist der Beste, Lance, schuld sind die anderen!
Als Stroll als 15. über die Ziellinie fuhr, belegt mit einer Zehnsekundenstrafe für den Zwischenfall beim Safety-Car-Restart am Ende der 26. Runde, hatte er 1:23 Minuten Rückstand auf Sieger Max Verstappen und 11,1 Sekunden auf Guanyu Zhou, der vor ihm als 14. über die Ziellinie gefahren war.
Für seinen Renningenieur Andrew Vizard eine tolle Leistung: "Das war Pech, mein Lieber. Am Anfang lief es richtig gut. Die ersten zwei Stints lief es gut, bis zu diesem Safety-Car. Nur zur Info: Das war eine große Ziehharmonika. Hat gleich ein paar erwischt. Ich glaube, es war wahrscheinlich Sainz, der das weiter vorn ausgelöst hat."
Stroll befand sich gerade in der Auslaufrunde, als er die Zehnsekundenstrafe neuerlich als "lächerlich" kritisierte, denn: "Der ganze Zug vor mir ist stehengeblieben. Zweimal! Sogar auf der langen Geraden. Da hat jemand gebremst. Und dann in der Haarnadel nochmal."
Das wirkte auf mich ein bisschen wie der Funkspruch von jemandem, der sich für irgendwas rechtfertigen muss. Wissend, dass er es selbst verbockt hat.
Vizard bekundete dann sein Verständnis für den Kanadier, dem in seinen Augen offenbar schweres Unrecht widerfahren war: "Ja, wir haben es gesehen. Es warst definitiv nicht du. Es war einfach Chaos, nicht wahr? Die anderen sind nicht sehr gut gefahren. Du verdienst mehr als das."
Faktencheck: Hat wirklich Sainz die Ziehharmonika ausgelöst?
Doch damit nicht genug: Geht man der am Boxenfunk geäußerten Vermutung auf den Grund, dass Sainz den Ziehharmonikaeffekt ausgelöst haben soll, stößt man auf etwas ganz anderes: Es stimmt zwar, dass Sainz vor Kurve 14 erst beschleunigt und dann gebremst hat. Das war aber im Rahmen dessen, was man vor einem Restart als normal bezeichnen kann.
Derjenige, der hinter Sainz geschlafen hat, in allerletzter Sekunde nach links zog und mit qualmenden Reifen nur Zentimeter neben dem Ferrari vorbeirutschte und dabei mehr Glück als Verstand hatte, war der andere Aston-Martin-Fahrer: Fernando Alonso. Hinter Alonso entstand dann der Ziehharmonikaeffekt, für den Stroll nicht aufmerksam genug war.
Das ist der Teil der Erzählung, über den man bei Aston Martin nicht so gern redet.
Aston Martin: Rennkommissare beurteilen uns besonders hart
Teamchef Mike Krack trat nach dem Rennen vor die Presse und tat sein Bestes, den "Juniorchef" zu rehabilitieren: "Ich hätte mir gewünscht", kritisierte er die Rennkommissare, "dass sie sich das etwas detaillierter anschauen. Wir haben versucht, darüber zu diskutieren. Aber das Urteil war schnell gefällt, dass Lance dran schuld war."
Meiner persönlichen Meinung nach gab's da auch nicht viel zu diskutieren. Tatsächlich scheint eher der Aston-Martin-Blickwinkel ein ziemlich exklusiver zu sein. Auch Sky-Experte Ralf Schumacher ließ im Live-Kommentar das Argument, dass der arme Stroll wegen des Ziehharmonikaeffekts ja gar nichts dafür konnte, nicht gelten: "Das ist eine Haarnadelkurve. Dass die da alle langsam werden, ist ja wohl logisch. Mann, Mann, Mann, Mann, Mann." Und: "Ich weiß nicht, wo der hingeschaut hat."
Nicht nach vorn jedenfalls, was übrigens auch die Onboardaufnahmen belegen, sondern nach rechts, in Richtung Kurve. Warum auch immer.
Als Ricciardo aufgeben musste, hatte er sich am Boxenfunk wieder halbwegs gefangen: "Ich könnte jetzt richtig losledern, aber ich spare mir das. Ja, er hat eine Strafe bekommen. Aber die hilft uns nicht." Dann stellte er sein Auto entnervt ab.
Nicht nur überfordert, sondern auch zu langsam ...
Ich finde es inzwischen fast peinlich, wie bei Aston Martin versucht wird, Stroll jun. zu schützen. Als er im Q2 zwei Zehntel hinter Alonso lag (der am Ende in Q3 übrigens Dritter wurde, im Vergleich zu Strolls P11), freute sich Krack über den knappen Zeitabstand zwischen den beiden. Und jetzt, nach der haarsträubenden Aktion, sollen die Rennkommissare die Bösen sein?
Sorry, aber das ist Realitätsverweigerung.
Stroll ist kein blutiger Anfänger mehr, sondern ein Routinier in seiner achten Formel-1-Saison. In Imola wird er seinen 150. Grand Prix bestreiten. Selbst ohne Sprints hat er mehr Rennen absolviert als Kapazunder wie Emerson Fittipaldi, Mario Andretti, Jacky Ickx oder Keke Rosberg in ihrer ganzen Karriere. Seine Lehrzeit ist längst abgelaufen.
Was Aston Martin auch sagen hätte können
Bitte nicht falsch verstehen: Niemand erwartet, dass das Teammanagement dem eigenen Fahrer in den Rücken fällt. Aber ständig den Schwarzen Peter den anderen zuzuschieben, und nie ist der arme Lance schuld, das ist weder aufrichtig noch besonders guter Stil.
Man hätte nach Schanghai auch sagen können: "Ja, Lance hat einen Fehler gemacht. Das sollte nicht passieren, ist aber passiert. Ist auch anderen schon passiert. Er hat sich entschuldigt, und er hat die Entschuldigung auch so gemeint. Aber jetzt lassen wir das hinter uns und blicken auf Miami."
Nur: Das ging nicht. Stroll hat sich ja nicht entschuldigt. Schuld sind immer nur die anderen.
Die teaminterne Performancestatistik bei Aston Martin ist übrigens eindeutig: 4:1 für Alonso in den Rennen, 4:1 auch in den Qualifyings. Und da, wo es wirklich zählt, nämlich bei den WM-Punkten, führt Alonso aktuell mit 31:9.
Oder, noch deutlicher: Hätte Aston Martin 2023 zwei Alonsos gehabt, wäre man - zugegeben, Milchmädchenrechnung - mit 412 Punkten Vizeweltmeister geworden. Zweimal Strolls Punktekonto hätte gerade mal 148 Zähler ergeben. Und Platz 5.
Wie eine widerwillige Eiskunstlaufprinzessin
Es tut einem im Herzen weh, wenn man sieht, wie der dauergrantige Kanadier anderen Fahrern seit Jahren eins von 20 Formel-1-Cockpits blockiert. Stroll wirkt auf mich ein bisschen wie eine mürrische Eiskunstlaufprinzessin, die von ihrer ehrgeizigen Mama zum Training gezwungen wird, um vielleicht eines Tages doch noch Olympiasiegerin zu werden.
Vielleicht wäre es gescheiter gewesen, Lance wäre einfach Ski- oder Tennislehrer geworden. Freude macht ihm die Formel 1 jedenfalls nicht. Und wenn doch, dann macht er einen echt guten Job darin, es tunlichst zu verheimlichen.
In Pressekonferenzen schaut er meistens mehr auf sein Handy als zu den Journalisten, und bei uns in der Redaktion werden seine Medienrunden meist gar nicht mehr abgetippt, weil er so mürrisch antwortet und dabei selten was Interessantes sagt. In den E-Mails der Kollegen, die seine Audioaufnahmen durchgehört haben, stehen dann Kommentare wie: "Typischer Lance. Sagt nichts. Lohnt sich nicht."
Traut sich keiner was gegen den Sohn des Chefs zu sagen?
Mike Krack und der Rest des Aston-Martin-Managements befinden sich in einer schwierigen Position. Sie müssen verteidigen, was nicht zu verteidigen ist. Tun sie es nicht, ziehen sie sich möglicherweise den Zorn des Chefs zu. Des "Seniorchefs", in dem Fall. Und dessen Zorn möchte auch ich mir lieber nicht zuziehen! Das ist es vermutlich, was Ehrlichkeit und Selbstreflektion im Team verhindert.
Nicht falsch verstehen: Lawrence Stroll will das Beste für seinen Sohn. Hat ihm ein Formel-3-Team gekauft, hat ihm jetzt auch ein Formel-1-Team gekauft. Würden wahrscheinlich viele so machen, wenn sie das Geld hätten. Das ist per se nicht illegitim. Die Frage ist nur: Sind acht Jahre nicht genug, um zu erkennen, dass Lance nicht das Zeug zum Weltmeister hat?
Vielleicht hört Lance ja auf und wird Skilehrer, und vielleicht verkauft Lawrence dann sein teuerstes Spielzeug wieder. Damit endlich, endlich ein anderer damit spielen kann.
Einer, der letzte Nacht viel besser geschlafen hat als Lance Stroll, ist Lando Norris. Warum, das hat mein Kollege Frederik Hackbarth in der Schwesterkolumne zum Grand Prix von China aufgeschrieben, die ihr jetzt hier nachlesen könnt.
Euer
Hinweis: Es liegt in der Natur der Sache, dass diese Kolumne meine subjektive Wahrnehmung abbildet. Wer anderer Meinung ist, kann das gern mit mir ausdiskutieren, und zwar auf meiner Facebook-Seite "Formel 1 inside mit Christian Nimmervoll". Dort gibt's nicht in erster Linie "breaking News" aus dem Grand-Prix-Zirkus, sondern vor allem streng subjektive und manchmal durchaus bissige Einordnungen der wichtigsten Entwicklungen hinter den Kulissen der Formel 1.
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