• 08.10.2012 09:03

  • von Roman Wittemeier

Der Sturm im Kanal: Aerodynamikentwicklung

Im dritten Teil unserer Serie über das Toyota-Engagement auf der Langstrecke dreht sich alles um die wichtigsten Entwicklungstools: CFD, Windkanal und Simulator

(Motorsport-Total.com) - In der Le-Mans-Szene ist auch 2012 Spannung garantiert. Nach dem plötzlichen Rückzug von Peugeot sprang Toyota in die Bresche. Die Japaner mit Entwicklungsstandort in Köln machten aus dem geplanten Testjahr mit dem neuen TS030 Hybrid ein Einsatzjahr und verhalfen der neuen WEC zu mehr Wettbewerb. In unserer Serie stellen wir das Toyota-Projekt genauer vor. Heute: Die Aerodynamik-Entwicklung und die ständige Suche nach Abtrieb.

Titel-Bild zur News:

Interessant aus der Vogelperspektive: Die Luftführung an den Vorderrädern Zoom

"Bei der Aerodynamik-Entwicklung geht es nicht immer nur darum, mehr Abtrieb für das Auto zu finden, sondern auch um ganz andere Dinge", schüttelt Toyota-Aerodynamikchef Chris Hebert schnell mit dem Kopf als ich ihn als "Spürnase für Downforce" bezeichnen will. Der Brite und sein Team haben weit mehr Aufgaben als nur das Auto möglichst fest an den Boden zu pressen. "Man arbeitet beispielsweise auch an der Kühlung von Motor, Getriebe und Hybridsystem."

Auch wenn seit dem Formel-1-Ausstieg von Toyota am Motorsport-Entwicklungsstandort Köln ein anderer Wind weht, so spielt dennoch die beschleunigte Luft immer noch die größte Rolle. Wer sein Auto im Vergleich zur Konkurrenz schneller machen möchte, findet die entscheidenden Zehntelsekunden eben doch beim Thema aerodynamische Effizienz. Die Ideen und Erkenntnisse der Ingenieure werden per CAD dargestellt, das Potenzial per CFD errechnet, die Modelle per Rapid-Prototyping gebaut und schließlich im Windkanal ausprobiert.

Bei meinem Besuch in den TMG-Hallen in Köln habe ich großes Glück. An jenem Tag wird kein 50-Prozent-Modell im Windkanal angeblasen, sondern das echte LMP1-Auto in voller Größe. "Das gesamte Auto stand in der Rollout-Version im Windkanal und dann in der Silverstone-Spezifikation. Im weiteren Verlauf des Jahres wird es wohl noch einen solchen Test geben. So etwas passiert also nicht alle Tage", sagt Hebert. "Mit dem Modell sind wir mindestens einmal pro Monat im Windkanal."

Windkanal: Pusten und Pausen

Hinter einer dicken Glasfront wird das Auto auf dem Laufband fixiert. Der riesige Ventilator mit 6,30 m Durchmesser steht noch still. Die Computersysteme laufen bereits auf Hochtouren. Nach Abschluss der Vorarbeiten gehen die Türen zu. Die Geräuschkulisse wird langsam lauter. "Zuerst beginnt das Laufband. Dabei werden die Systeme austariert, das Fahrzeuggewicht und die Kräfte in Längsachse gemessen. Das bildet die Basis", sagt der Aerodynamiker.

"Die Differenz zwischen diesen Werten und jenen, die gemessen werden, wenn der Wind bläst, zeigen uns dann die Wirkung der Aerodynamik. Einige Messeinrichtung zeigen uns den Luftwiderstand des Fahrzeuges, andere messen die Abtriebswerte. Hinter den Kühlern und in den Bremsbelüftungen haben wir zusätzliche Messeineinrichtungen, ebenso am Diffusor. Wir probieren beispielsweise verschiedene Bremsbelüftungen aus, um die passende Konfiguration zu finden, die uns optimale Kühlung bietet, aber gleichzeitig aerodynamisch wenig negative Auswirkungen hat."


Fotos: Bau des Toyota TS030 bei TMG


Nach den wichtigen Vorbereitungsmaßnahmen wird es ernst. Alle Türen werden geschlossen, die Fachleute nehmen ihre Positionen auf der sicheren Seite des Fensters ein. Das Laufband erreicht eine Geschwindigkeit von bis zu 70 Meter pro Sekunde, gleichzeitig pustet der Ventilator mit lauten Getöse die Luft mit gleicher Geschwindigkeit durch den Raum. Während eines Durchlaufes mit einer Dauer von sieben bis zehn Minuten werden die Daten über Sensoren erfasst und gespeichert.

"Bei einem Testlauf kommen jeweils rund 14 bis 15 Megabytes an Daten zusammen. Wenn du aber einige Hundert Durchläufe gemacht hast, dann sammelt sich ganz schön viel an Information an", sagt Hebert. "Wenn die Daten ausgewertet und in Korrelation zu anderen Erkenntnissen gesetzt werden, dann wird aus einer kleinen Datenmenge eine große. Die CFD-Abteilung generiert bei uns die meisten Daten. Da sprechen wir von unzähligen Gigabytes."

Nach jedem Run wird umgebaut, eine veränderte Konfiguration getestet oder bei anderer Windstärke ein weiterer Versuch gemacht. Die beiden nahezu baugleichen Windkanäle von TMG sind im Tempobereich bis zu 70 m/s frei einstellbar. Die Genauigkeit der Anlage ist beeindruckend, die Abweichungen betragen selbst bei voller Last höchstens 0,04 Prozent. Nur so kann der Windkanal ein wirklich verlässlicher Partner bei der Entwicklung von Aerodynamikelementen sein.

50-Prozent-Modell hat Vorteile

"Hier drinnen sind es stets zwischen 21 und 22 Grad Celsius. Das wird ganz genau geregelt", nennt Hebert einen weiteren Präzisionsfaktor der TMG-Anlagen. Die Kunden wissen dies zu schätzen. Einige aktuelle Formel-1-Teams nutzen die Windkanäle ebenso wie beispielsweise Hersteller von Rennrädern. TMG selbst stellt nicht nur das LMP1-Auto sowie 50-Prozent-Modelle in die Anlage, sondern beispielsweise auch das neue Rallyeauto Yaris R1A oder den Sportwagen GT86, der unter anderem auf der Nordschleife unterwegs ist.

So gern die Ingenieure mit dem echten Auto im Windkanal stehen: Die Tests mit Modellen haben ihre Vorteile. "Wenn wir das gesamte Auto im Windkanal haben, dann sind es im Prinzip Tests von Geradeausfahrten. Das liegt einfach daran, dass der Platz im Windkanal begrenzt ist, wenn du einen LMP1-Wagen darin stehen hast", erklärt Hebert. "Beim Modell können wir andere Zustände herstellen, zum Beispiel die Räder in eine Richtung einschlagen oder das Auto anstellen. Wenn wir die Lenkung beim echten Auto einschlagen würden, dann könnte der Wagen schnell mal seitlich vom Laufband rollen."

Modell mit Möglichkeiten: Oft steht nicht das gesamte Auto im Windkanal Zoom

Weiterer Vorteil des 50-Prozent-Modells ist die Geschwindigkeit, mit der vielversprechende neue Teile produziert werden können. Sollte sich eine per CFD überprüfte Entwicklung als gut herausstellen, wird innerhalb weniger Stunden per Rapid-Prototyping ein Bauteil aus Kunstharz angefertigt, das sofort am Modell verbaut und getestet werden kann. Die Produktion eines solchen Entwicklungsteils in 1:1-Größe würde länger dauern und viel teurer sein.

Ohnehin achtet man auch bei der Aerodynamik-Entwicklung auf Heller und Pfennig. Probierte man zu Formel-1-Zeiten pro Monat bis zu 2.500 neue Teile im Windkanal aus, so sind es nun erheblich weniger. "Man muss aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten bei solchen Testläufen generell selektiver herangehen. Man muss schon ganz genau darauf achten, dass man die Teile für einen solchen Versuch auswählt, die die besten Fortschritte in Sachen Performance versprechen. In der Formel 1 probierst du einfach alles aus, du testest jede noch so kleine Variante aus, die ein Promille Performance-Zuwachs beinhalten könnte", erklärt Hebert die Unterschiede zu den Zeiten, als man bei TMG aus dem Vollen schöpfen konnte.

Früher liefen beide Windkanäle in Köln am sieben Tagen pro Woche rund um die Uhr, um dem Formel-1-Auto weiter auf die Sprünge zu helfen. Im LMP1-Programm ist man bescheidener. Aber immerhin standen Modell und Prototyp trotzdem über 1.200 Stunden im Windkanal, bevor das Team bei den 24 Stunden von Le Mans 2012 mit dem neuen TS030 debütierte. Die Ergebnisse sprechen für sich: In Le Mans zwischenzeitlich in Führung, in Silverstone sensationelles neues Aeropaket und in Brasilien der erste Sieg.

Der Simulator tanzt Samba

"Alles, was wir im Windkanal tun, ist eine Simulation der Realität. Jede Art von Fahrzeugtest hat seine Vor- und Nachteile. Es gibt Tests mit dem Modell, mit dem kompletten Fahrzeug und auch CFD-Tests. Keine der drei Varianten ist eine perfekte Simulation dessen, was auf einer Rennstrecke tatsächlich passiert", meint Hebert. "Jede Testart hat seine Schwächen, auch der CFD-Test natürlich. Daher benutzen wir alle drei Möglichkeiten, um ein genaueres Bild zu bekommen. Bei Testfahrten gleichen wir diese Daten dann noch einmal am fahrenden Fahrzeug ab."

Nicht immer kommt es zu einem solchen Abgleich auf der realen Rennstrecke. Der Simulator gibt oft bereits konkreten Aufschluss über die Ergebnisse der Bemühungen von Chris Hebert und seinem Team. Für mich öffnet sich eine weiter heilige Tür bei TMG. In einem hohen Raum schwebt ein Cockpit samt Nase und Seitenkästen vor einer riesigen Leinwand, die einen Blickwinkel von 200 Grad darstellt. Das radlose Fahrzeug wird von Hydraulikelementen auf drei Achsen bewegt.

Das voll ausgestattete Cockpit ist mit einem originalen Lenkrad aus dem TS030 ausgestattet, Elektromotoren simulieren dem Piloten die Lenkkräfte, sodass das Fahrgefühl möglichst nahe an der Realität ist. Auf dem gigantisch halbrunden Screen ist die Start-Ziel-Gerade von Silverstone aus Fahrerperspektive zu sehen. Plötzlich setzt sich das virtuelle Auto in Bewegung. Es geht mit realistischem LMP1-Tempo durch die traditionsreichen Kurven wie Maggotts und Becketts. Kurios: Im Cockpit des Simulators sitzt niemand!

Staunend schaue ich hoch in die Kommandozentrale, wo Mathieu LeNail hinter seinen Monitoren lächelt und sichtlich Spaß hat. "Du hast gerade gesehen, wie Nico Lapierre eben seine Runden in Silverstone gedreht hat. Der war nämlich eben noch hier, sein Aftershave dürfte noch in der Luft liegen", sagt der Techniker. "Wir speichern alle im Simulator absolvierten Runden und können sie jederzeit noch einmal wiederholen." Nach wenigen Klicks erscheint auf dem Screen die Strecke von Le Mans - eine weitere von über 20 Pisten, die in der virtuellen TMG-Welt als äußerst realistische Simulation ausgewählt werden kann.

Le Mans in Köln-Marsdorf

Auf den Monitoren in der Kommandozentrale erscheinen Kurven und Darstellungen von Daten, die während der virtuellen Testrunden aufgezeichnet wurden: die Telemetrie jener Le-Mans-Fahrten, die Stephane Sarrazin im rund 700 Kilometer abseits der Sarthe liegenden Köln absolviert hat. LeNail drückt auf "Play" und lässt den nicht vorhandenen Piloten noch einmal über die Strecke fahren. Das Cockpit auf den Hydraulikstempeln bewegt sich, simuliert alle Kräfte auch in der Wiederholung.

Plötzlich wieder dieses schelmische Grinsen des Toyota-Renningenieurs. "Pass auf", sagt LeNail. Er bewegt einen Ziehbalken auf seinem Monitor - urplötzlich läuft die gesamte Wiederholung der Sarrazin-Runde in vielfacher Geschwindigkeit ab. Erstaunlich: Die Hydraulikstempel machen keinen langsamen Walzer mehr, sondern gehen zum Turbo-Tango über. "Bei solchem Tempo sollte man besser nicht dort oben im Simulator sitzen", lacht LeNail und stoppt die Show.


Fotos: WEC in Bahrain


In der Anlage werden nicht nur neueste Entwicklungen ausprobiert, sondern auch erste Setuparbeit verrichtet. Das Feedback der Piloten, die teilweise stundenlang ihre Runden drehen, spielt eine wichtige Rolle. Sie sind es, die das reale Fahrzeug letztlich im Rennbetrieb auf der Strecke bewegen müssen. Sie sind es auch, die bei der Simulatorarbeit weitere Hinweise auf die künftige Entwicklungsrichtung geben können. Diese Erkenntnisse und Wünsche, die anders sind als bei einem Formel-1-Engagement, landen schließlich wieder auf dem Tisch von Aerodynamikchef Hebert.

"In der Formel 1 kannst du ein Auto so entwickeln, dass es auf eine schnelle freie Runde am schnellsten ist. In Le Mans wirst du hingegen eine solch freie Runde niemals haben. Es geht dort ums Überholen. Die schnelle Runde muss in Le Mans unter ganz anderen Umständen erzielt werden", nennt der Brite ein Beispiel. "Wenn dir ein GT-Auto in den Porsche-Kuven in die Quere kommt, dann brauchst du den Abtrieb, um dort schnell vorbei zu kommen. Gleichzeitig darf dein Auto auf der Mulsanne-Geraden nicht zu sehr im Wind stehen. Den besten Aerodynamiklevel für das Auto zu finden, ist eine äußerst komplexe Angelegenheit."

Frontsplitter als wichtiger Faktor

Das Gesamtpaket macht den Unterschied. Einzelne Bauteile können zwar von entscheidender Bedeutung sein, aber nur das perfekte Zusammenspiel aller Komponenten bringt Aussicht auf Erfolg. "Wir haben uns bezüglich der Aerodynamik für das Le-Mans-Paket 2013 ambitionierte Ziele gesetzt. Die werden schwierig zu erreichen sein", erklärt Hebert. "Wir wollen in Le Mans gewinnen, und das schaffen wir natürlich nicht, wenn wir dort noch einmal das diesjährige Auto an den Start bringen. Audi wird schneller werden, also müssen wir umso größere Fortschritte machen."

Toyota bringt die Le-Mans-Erfahrung aus den Jahren 1998 und 1999 mit Zoom

Nach Aussage des Ingenieurs stehen die Grundzüge der Entwicklung 2013 fest. Besonderes Augenmerk richtet man auf die Frontpartie des Autos, vor allem den Splitter. "Der Frontsplitter ist bei einem LMP1-Auto ein sehr wichtiges Bauteil. Darüber werden Handling und Stabilität des Fahrzeuges bestimmt. Alle Teams haben diesen Bereich besonders im Blick", erklärt Hebert. Das Bauteil sei im Grunde nichts anderes als ein "großer Flügel", der sich bis weit unter das Auto erstrecke.

"Wenn sich die Bodenfreiheit ändert, dann ändert sich die Lage des Frontsplitters wegen des Überhangs umso mehr", nennt der Aerodynamiker die Herausforderung. "Gleichzeitig reagiert ein solches aerodynamisches Element sehr sensibel bei Veränderung des Abstands zum Boden. Je mehr Abtrieb du generierst, desto sensibler wird dieser Bereich. Das Geheimnis bei der LMP1-Aerodynamik ist, die Downforce zu erhöhen, ohne dabei die Wirkungsweise noch sensibler zu machen. Das ist eine große Herausforderung."

Ob die Ideen von Hebert und seinen TMG-Kollegen für 2013 funktionieren, wird man spätestens beim WEC-Auftakt im April kommenden Jahres in Silverstone sehen. Ansätze sieht der Brite genug. "Hier habe ich nach zehn Jahren Formel 1 deutlich mehr Freiheiten als zuvor", freut sich der TMG-Chefaerodynamiker. Mit weniger Mitteln mehr erreichen ist das Motto. "Wir sind weniger Leute als zu Formel-1-Zeiten. Aber diejenigen, die jetzt an Bord sind, haben viel Freude."

Lesen Sie morgen den vierten Teil unseres Toyota-Features auf 'Motorsport-Total.com': Testumgebungen und Prüfstände - Schnelle Runden ohne Fortbewegung und Komponenten im Dauerstress.