FIA-Konferenz Turin: Mehr Fokus auf Grundfesten des Sports
'Motorsport-Total.com' bei der FIA-Konferenz in Turin: Was Jean Todt mit den Konferenzen bewirken will, wofür sich Vettel einsetzte und wieso das Erbe wichtig ist
(Motorsport-Total.com) - Wenn der Durchschnittsleser das Wort Motorsport hört, dann denkt er an die Formel 1, die WEC, die Rallye-WM oder die eine oder andere internationale Tourenwagenserie. Das ist keine Überraschung, denn diese Serien stehen Woche für Woche im Blickpunkt. Und zwar so sehr, dass man glauben könnte, sie wären die einzigen Meisterschaften.
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Toro-Rosso-Teamchef Franz Tost war einer der Sprecher bei der FIA-Konferenz Zoom
Dennoch kommen auf jeden Lewis Hamilton oder Sebastian Vettel 10.000 Kids, die davon träumen, genau dorthin zu kommen. Und dann gibt es zehn Mal so viele, die vermutlich noch nie - also weder live noch im TV - ein Rennauto gesehen haben und daher nicht einmal zu träumen beginnen können.
Mit dieser Situation sieht sich die FIA konfrontiert: Von den 140 weltweiten Mitgliedern des Automobil-Weltverbandes tragen nur 21 einen Grand Prix aus, 14 veranstalten Rallye-WM-Läufe und neun kommen in den Genuss von Rennen der Langstrecken-WM.
Motorsport nur für Bruchteil der Gesellschaft zugänglich
Diese 44 Veranstaltungen bilden die drei großen Weltmeisterschaften der FIA, aber die Anzahl der Veranstaltungen deckt sich nicht mit der Anzahl der Länder, da zum Beispiel Deutschland und China als Austragungsorte aller drei Weltmeisterschaften fungieren.
Von den ungefähr 150 Mitgliedsländern tragen tatsächlich nur 27 in diesem Jahr einen Lauf zu einer FIA-Meisterschaft aus. Das sind weniger als 20 Prozent. Wenn man dann noch in Betracht zieht, dass die Vereinten Nationen 193 Mitgliedsstaaten (und zwei mit Beobachterstatus) haben, dann fällt der Anteil der Veranstaltungsländer von FIA-Meisterschaften rasch unter 15 Prozent. Es gäbe also noch 160 potenzielle Schauplätze, die sich Bernie Ecclestone ansehen könnte...
Obwohl der 84-Jährige große Bemühungen angestellt hat, um die Formel 1 weltweit zu vermarkten (für Geld natürlich), ist es fraglich, ob Myanmar oder Papua Neu Guinea jemals einen Grand Prix austragen werden. Obwohl versucht wird, den Motorsport in diesen Ländern salonfähig zu machen, gilt es als unwahrscheinlich, dass dort die Formel 1 jemals im TV laufen wird oder die Leute lokale Kartevents erleben werden.
Wieso Todt die FIA-Konferenzen ins Leben gerufen hat
Die wahre Herausforderung für den globalen Motorsport ist aber nicht der jährlich um ein Rennen wachsende Formel-1-Kalender, obwohl hinter den Kulissen bereits von einer Verringerung gesprochen wird, sondern den Motorsport breitenwirksam zu machen. Das - und nicht die Formel 1 - ist die Priorität der FIA.
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FIA-Boss Jean Todt & Co. eröffnen die FIA-Konferenz in Turin Zoom
Man kann unmöglich beziffern, wie viel Potenzial der Markt noch bietet, aber es ist wahrscheinliche eine pessimistische Schätzung, dass derzeit weltweit eine geschätzte Milliarde Menschen keinen Kontakt zu jeglicher Art von Vierrad-Motorsport hat. Daher lautet die Frage: Wie erreicht man diese Leute und verbreitet die Botschaft?
Im letzten Jahr seiner ersten vierjährigen Amtsperiode schuf FIA-Präsident Jean Todt - früher ein Weltklasse-Copilot und Teamchef, der in so unterschiedlichen Ländern wie Monaco oder Marocco gewonnen hat - das Konzept jährlicher Motorsportkonferenzen, die rund um den Erdball von einem FIA-Mitglied abgehalten werden.
Todt wünscht sich mehr Innovationen
Seine Idee war, diese Länder mit der Vision und den Werkzeugen auszustatten, um das Motorsport-Wachstum vor Ort voranzutreiben, oder sie - wie es in manchen Gegenden der Fall ist - zu ermutigen, Wettbewerbe zu etablieren, indem man einfache Rennstrecken für Autos oder Karts baut oder sichere und nachhaltige Meisterschaften gründet.
Diese Woche ging die vierte Ausgabe dieser Konferenzen in Italien unter dem Titel "Leidenschaft und Innovation: Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Motorsports" über die Bühne.
Den Fokus brachte Todt bei der Eröffnungsrede auf den Punkt: "Wir haben diese Konferenz als Plattform für Austausch ins Leben gerufen. Leute sollen sich hier treffen, und als Ergebnis dieser Gespräche innovative Projekte in die Welt setzen. Der FIA ist es wichtig, dass der Motorsport für jeden zugänglich ist - und zwar überall auf der Welt."
The Italian Job
Die erste Konferenz wurde in Goodwood in Großbritannien im Juni 2013 abgehalten. Das Thema war Entwicklung und Bewerbung des Motorsports und die damit verbundenen Herausforderungen. Bei der zweiten Ausgabe in München ging es um Networking, Entwicklung und Möglichkeiten für Bildungs- und Business-Austausch innerhalb der FIA-Sportgemeinschaft. Teil davon war auch das FIA-Sport-MotorEx-Forum, das kommerziellen Einheiten zu neuen Zuschauern verhelfen soll.
Die Vorjahresausgabe wurde unter dem Motto "Make it fast, make it safe, make it for fans" in Mexiko abgehalten. Dabei baute man auf den Inhalten der früheren Konferenzen auf und legte den Fokus auf die Vorteile von strukturierten Programmen für die nationalen Sportbehörden. Jetzt aber zur bislang letzten Ausgabe, die im Centro Congressi im früheren FIAT-Werk in Lingotto in Turin abgehalten wurde.
Die Mini-Verfolgungsjagd aus The Italian Job
Das Gebäude erlangte durch die Auto-Verfolgungsjagd im Kino-Kassenschlager "The Italian Job" Berühmtheit, in der das Mini-Trio auf der Lingotto-Teststrecke auf dem Hausdach von Carabinieri verfolgt wird. Jetzt beinhaltet es abgesehen von einem 1.900 Sitzplätze fassenden Auditorium und neun Besprechnungsräumen ein Wirtschaftszentrum und zahlreiche Hotels.
Vettel & Co.: Zahlreiche Motorsport-Koriphäen am Rednerpult
Die engen Verbindungen zu FIAT machten die FIAT-Chrysler-Allianz zu einem logischen Kandidaten als Konferenzsponsor, zumal sich die italienische Autobranche mit Unternehmen wie Magneti-Marelli, Pirelli und Brembo ebenfalls beteiligte. Während der Konferenz gab Pirelli eine vierjährige Fahrsicherheits-Partnerschaft mit der FIA bekannt. Außerdem war Todt 16 Jahre lang sowohl als sportlicher Leiter als auch als Geschäftsführer bei Ferrari aktiv.
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Jacky Ickx sprach über die Gründe für den Erfolg der 24 Stunden von Le Mans Zoom
In seinem Grundsatzreferat verwies Ferrari-Präsident und -Geschäftsführer Sergio Marchionne auf das reichhaltige Motorsporterbe des Unternehmens, ob in Formel 1, Rallye-WM, Langstrecken- oder Tourenwagensport. Das gilt natürlich auch für NASCAR und andere US-amerikanische Serien, an denen die US-Marken des Konzerns teilnehmen.
Der Italo-Kanadier war aber nicht die einzige Motorsport-Koriphäe, die sich an die rund 500 Delegierten aus den 150 Mitgliedsländern wandte. Allein am ersten Tag betraten der viermalige Formel-1-Weltmeister Sebastian Vettel, Wirtschaftsguru Zak Brown, Ex-McLaren-Teamchef Martin Whitmarsh, sein Nachfolger Jost Capito, Toro-Rosso-Boss Franz Tost sowie die Le-Mans-Stars Jacky Ickx, Allan McNish und Emanuele Pirro die Bühne und sprachen über ihre Leidenschaft für die Geschwindigkeit.
Vettel: Gefahr ist wichtig für den Motorsport
Vettel vertrat vehement seine Ansicht, dass die Grundfesten des Sport beibehalten werden müssen. Dazu zählen "die Geschwindigkeit und bis zu einem gewissen Grad auch die Gefahr, denn das macht es aufregend". Der sechsmalige Le-Mans-Sieger Jacky Ickx konzentrierte sich in seiner Präsentation auf die Bedeutung der Fans, die "am Ende darüber richten, ob eine Veranstaltung erfolgreich ist oder nicht. Le Mans ist deswegen so erfolgreich, weil der menschliche Aspekt im Vordergrund steht".
Vettel: "Formel 1 muss gefährlich bleiben"
Der Ferrari-Pilot spricht bei der FIA-Sportkonferenz in Turin über sein Anfänge, Vergangenheit und die Gegenwart Königsklasse Weitere Formel-1-Videos
McNish verwies darauf, dass der 24-Stunden-Klassiker dieses Jahr ein "hervorragendes Beispiel dafür ist, welche Bedeutung das Motorsporterbe auch heute noch hat, da Ford und Ferrari 50 Jahre nach ihrem ersten Kampf wieder ein hartes Duell ausgetragen haben".
Pirro erinnerte ebenfalls an die Bedeutung der Geschichte: "Wenn ich in die Zukunft schaue, dann sehe ich viele neue und spannende Dinge, aber ich hoffe, dass wir die Vergangenheit nicht vergessen. Vieles ist käuflich, aber nicht die Geschichte. Die Leidenschaft hat den Motorsport in der Vergangenheit vorangetrieben. Das ist auch heute so, und das wird auch in der Zukunft so sein."
Tost erklärt, worauf er bei Talenten schaut
WRC- und WRX-Champion Petter Solberg erzählte leidenschaftlich von seinen Motorsportanfängen als Sohn eines Spediteurs, während sich Vettel für die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Strukturen für die Unterstützung aufkommender Talente aussprach. Er betonte, dass er es ohne diese Hilfe nie nach oben geschafft hätte. Tost sprach über die fünf Eigenschaften, auf die er bei einem Formel-1-Rookie schaut. Die Haupteigenschaft ist, "den Motorsport 24 Stunden am Tag zu atmen und zu leben".
An jenem Abend wurden die Delegierten und Interessensvertreter noch zu einer privaten Führung durch das Turiner Museo dell'automobile geladen, in dem über 200 Autos von über 80 Herstellern aus der Vergangenheit und der Gegenwart ausgestellt sind. Darunter befinden sich auch einige legendäre Renn- und Rallyeautos.
Der zweite Tag war nicht weniger beeindruckend. An der Gesprächsrunde mit dem Titel "Passion for Excellence" nahmen Ferrari-Technikchef James Allison, Konstrukteurs Giampaulo Dallara, die legendären Designer Giorgetto Giugiaro und Paolo Pininfarina, McLaren-Advanced-Technologies-Leiterin Caroline Hargroves und der ehemalige FIAT-Geschäftsführer und aktuelle Präsident FIA-Kommission für Historisches, Paolo Cantarella teil.
Warum Classic-Events boomen
Die Aussagen des Letzgenannten waren besonders interessant, denn Cantarella belegte mittels Zahlen, dass der historische Motorsport immer populärer wird. Zu den zwei jährlichen Goodwood-Festivals kommen 150.000 Leute, aber auch bei den Classic-Wochenenden in Silverstone und auf dem Nürburgring werden über 100.000 Besucher gezählt. Und das historische Festivals in Monaco macht dem Grand Prix in Sachen Zuschauerzahlen ebenfalls bereits Konkurrenz.
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Le-Mans-Ass Allan McNish hat auch Erfahrungen aus der Formel 1 Zoom
Cantarella verwies auch darauf, dass der historische Motorsport relativ zugänglich ist, da Limousinen günstiger gekauft und vorbereitet werden können als topmoderne Boliden, die zudem ständig und um viel Geld auf den neuesten Stand gebracht werden müssen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Und der Spaßfaktor ist bei den historischen Autos vielleicht sogar höher.
Er sprach aber auch eine Warnung aus: "Der historische Rennsport zieht vielleicht viele Leute an, aber wir sind auch mit einem Risiko konfrontiert: Auf gewisse Art und Weise könnten wir Opfer unseres eigenen Erfolgs werden. Der Wert der Autos an der Spitze ist massiv angestiegen, also setzen sich viele Sammler nicht mehr hinter das Steuer ihrer eigenen Autos, sondern geben sie an Profis weiter, die damit gewinnen. Das andere Problem ist die Weiterentwicklung hinstorischer Autos, die somit schneller sind als sie sein sollten."
Rallycross-WM: Zugänglichkeit ist Trumpf
Nach Workshops über neue Einsteiger-Motorsportparks in Australien und Barbados und das Erkennen von potenziellen neuen Austragungsorten, wurde am Nachmittag unter dem Motto "Breaking down barriers" über Zugänglichkeit und soziele Verantwortung diskutiert. Der stellvertretende FIA-Präsident Graham Stiker lud zu diesem Anlass unter anderem den viermaligen Formel-1-Weltmeister Alain Prost, der sich beim Thema, den Motorsport für die Fans zugänglicher zu machen, keinesfalls wortkarg zeigte.
Die scheidende Audi-Renningenieurin Leena Gade, FIA-Sicherheitschef Laurent Mekies und WRX-Vermarktungschef Rob Armstrong vervollständigten die Liste der Vortragenden. Die Aussagen Armstrongs deckten sich mit denen Solbergs über den Reiz des Rallycross für die junge Zielgruppe: "Als Promoter der Rallycross-WM geht es für mich nur um die Zugänglichkeit. Und das gilt für die unterschiedlichsten Fans. Wir sehen uns nach Gelegenheiten um, die für unsere Fans relevant sind. In Norwegen gibt es zum Beispiel Programme, die es jungen Leuten ermöglicht, für Rallycross-Teams zu arbeiten."
Alain Prost bei der FIA-Konferenz in Turin
Die finale Plenumssitzung behandelte am Donnerstag die Zukunft des Motorsports. Dabei stießen Experten für Marketing, Neue Medien und Videospiele zu James Barclay (Jaguar Formel E), FIA-Kart-Vizepräsident Kees van der Grint und Jim Liaw. Er ist ein Mitglied der FIA-Arbeitsgruppe Driften. Und obwohl der Mainstream-Fan damit kaum in Berührung kommt, handelt es sich dabei zweifellos um eine der zugänglicheren Formen des Motorsports. Und vielleicht ist es die Eintrittskarte für vielversprechende junge Rennfahrer in aufstrebenden Ländern.
Das Fazit der FIA-Konferenz
Bevor Todt die Abschlussrede hielt, wandte sich der eloquente WEC- und Formel-E-Sieger Lucas di Grassi an das Publikum, der sich dafür aussprach, dass sich die Regelhüter trotz der immer gebräuchlicher werdenden Fahrhilfen in Serienautos für die sportliche Herausforderung in allen Motorsportbereichen einsetzt.
Stoker, der für das globale Wachstum des Motorsports verantwortlich zeichnet, sprach dann nach drei sehr aufschlussreichen Tagen die Schlussworte: "Diese Konferenz wird dabei helfen, dass sich stärkere Vereine bilden. Wir müssen dafür sorgen, dass jeder in diesen Sport einsteigen kann, der das nötige Talent dazu hat. Es darf nicht um Familienbande oder Netzwerke gehen, sondern das Talent sollte im Vordergrund stehen. Das ist zwar derzeit der Fall, ist aber ausbaufähig." Die FIA-Sportkonferenz 2017, die wahrscheinlich in Genf stattfinden wird, wird dieses Ziel weiter vorantreiben...