Ferngelenkt wie Apollo 11: Mercedes zeigt Mission-Control in Brackley
Die Silberpfeile geben Einblick in ihre geheime Kommandozentrale in Brackley: Wo die entscheidende Arbeit passiert, damit Lewis Hamilton zum WM-Titel gelenkt wird
(Motorsport-Total.com) - Während Ferrari bei vielen Rennen in dieser Saison das bessere Auto hatte, erwies sich Mercedes klar als besseres Team: Nach kleinen Pannen zu Saisonbeginn merzte man seine Fehler aus und erwies sich auch strategisch als weltmeisterlich, während Ferrari derzeit kein Fettnäpfchen auslässt.
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Der "Race Support Room": Von wird die Basis für Hamiltons Siege geschaffen Zoom
Vielen ist allerdings gar nicht bewusst, was für ein gigantischer Apparat im Hintergrund von Lewis Hamilton arbeitet, damit der Brite den Titel verteidigen kann. Die Floskel: "Danke an die Jungs in Brackley, die einen fantastischen Job machen", erhält in Anbetracht des Aufwands eine ganz andere Bedeutung bekommt.
Zumal gerade Mercedes dieses Jahr Rennen gewonnen hat, die man eigentlich nicht hätte gewinnen sollen. Einen wesentlichen Anteil daran hat der sogenannte "Race Support Room" in der Fabrik, auch "Mission Control" oder "virtuelle Garage" genannt.
Ein Drittel des Rennteams sitzt in Brackley
Ähnlich wie beim Testverbot, das immer komplexere Rennsimulatoren entstehen ließ, ist auch der "Race Support Room" (RSR) auf eine Reglementeinschränkung zurückzuführen: Die FIA lässt nur eine Anzahl von 60 technischen Mitarbeitern an der Rennstrecke zu, also lagern die Teams andere wichtige Mitarbeiter auf die Fabrik aus, um diese Regel zu umgehen. Bei Mercedes sind es rund 30 Menschen, die sich bei den Überseerennen im RSR die Nächte um die Ohren schlagen.
Mercedes' Mission-Control in Brackley
Mercedes erlaubt seltene Einblicke: In Brackley gibt es einen Raum, der stark an die Mission-Control der NASA erinnert ... Weitere Formel-1-Videos
Ein Großteil davon sind Freiwillige - Betriebspraktikanten, die ihre Freizeit opfern, um das Rennteam zu unterstützen. Zusätzlich sind Ingenieure aus verschiedenen Abteilungen anwesend (Reifen-, System- und Renningenieure sowie Aerodynamiker und Strategen). Gleichzeitig ist der RSR aber auch eine Trainingseinrichtung für junge Teammitglieder, die zum Rennteam stoßen möchten.
Wie bei der NASA-Mondmission
Doch wie sieht dieser ominöse Bereich in der Fabrik aus, von dem zugearbeitet wird? Erinnerungen an die Kommandobrücke eines Raumschiffs werden wach - oder an den NASA-Kontrollraum bei der ersten Mondmission von Apollo 11: Alle Mitarbeiter blicken wie in einem Kinosaal in die gleiche Richtung auf einen riesigen Bildschirm, auf dem die Onboard- und die Boxengassenbilder übertragen werden. Dazu kommen Live-Timing und Livedaten von der Strecke.
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Nicht nur zwischen Hamilton und seinem Renningenieur wird gefunkt Zoom
Außerdem ist der Arbeitsplatz eines jeden Mitarbeiters mit drei Bildschirmen und einer Sprechanlage ausgestattet, um sich in den jeweils relevanten Funkkanal einschalten zu können. Es wird also deutlich mehr gefunkt, als im Fernsehen bei den Funksprüchen zwischen Fahrer und Renningenieur hörbar ist. Wenn das Team Gäste in den RSR einlädt, nehmen diese ihre Kopfhörer meist rasch wieder ab, weil sie von den vielen Funksprüchen auf den rund 30 Kanälen, die das Team verwendet, schier überwältigt sind.
Spionage und Crash-Analyse: Was im RSR passiert
Doch nicht nur der eigene Funk ist im RSR ein großes Thema: Hier wird auch die Konkurrenz abgehört - eine Aufgabe, die die Betriebspraktikanten erledigen. Die Teammitglieder im RSR beobachten auch die verschiedenen Video-Feeds, um das Rennen aus so vielen Blickwinkeln wie möglich zu verfolgen. Wenn zum Beispiel Hamilton oder Bottas eine Berührung mit einem anderen Fahrzeug haben, suchen sie die entscheidenden Videopassagen heraus und senden sie so schnell wie möglich an die Aerodynamiker, die dann das Material analysieren.
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Nur zwei Drittel des Rennteams sind tatsächlich an der Rennstrecke Zoom
Da kann es schon mal vorkommen, dass ein beschädigter Heckflügel durch die rasche Übermittlung der Bilder direkt in der Fabrik auf strukturelle Schäden analysiert wird und entschieden wird, ob der Pilot ohne Crashgefahr weiterfahren kann.
Der verlängerte Arm von Chefstratege Vowles
Und auch für Chefstratege James Vowles ist der RSR eine Art verlängerter Arm. Das RSR-Personal ist dafür zuständig, die Boxengassenzeiten zu messen, die sehr wichtig für die Strategieentscheidungen sind. Die Strategen im RSR unterstützen Vowles und liefern Input sowie Hintergrundinformationen, damit die richtigen Schachzüge gelingen.
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Chefstratege Vowles und Hamilton wissen, wem sie die Erfolge verdanken Zoom
Das letzte Wort hat allerdings immer Vowles, der bestensfalls von Motorsportchef Toto Wolff überstimmt werden kann. "Wenn ich nicht 100-prozentig davon überzeugt bin, dass er etwas außer Acht gelassen hat, mische ich mich aber nicht ein, denn er ist es, der unser Flugzeug steuert", stellt der Österreicher klar. "Ich bin zwar hierarchisch über ihm, aber es ist seine Entscheidung." Es komme sogar vor, dass Vowles abgesehen von Chef-Renningenieur Andrew Shovlin Ruhe am Funk verlangt, verrät Wolff. "Das war glaube ich an mich gerichtet."
Aber auch bei der Set-up-Arbeit und der Überwachung der Zuverlässigkeit ist der RSR eine große Unterstützung für das Team an der Rennstrecke: Da die Mitarbeiter nicht direkt am Auto arbeiten, haben sie das Gesamtbild viel besser im Überblick und analysieren die Daten.
"Mission Control" sorgt für extrem kurze Wege
Wenn etwas nicht wie geplant läuft, ist Hilfe gleich um die Ecke - besonders am Freitag, wenn die Fabrik voll besetzt ist. Der RSR liegt direkt neben dem Designbüro, in dem sie dann mit der Person sprechen können, die das Teil entworfen hat - auch ein rascher Simulatortest durch einen Testpiloten kann eingeschoben werden. Außerdem gibt es im RSR Systemingenieure, die auf die Zuverlässigkeit des Autos achten. Sie achten zum Beispiel auf die Belastung der Aufhängung, wenn das Auto über einen Randstein fährt und stellen sicher, dass diese nicht zu hoch ist und die Aufhängung nicht beschädigt wird.
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Auch an den Rennwochenenden wird im Simulator parallel am Set-up gearbeitet Zoom
Wenn wo eine potenzieller Defektherd auftaucht, wird sofort der Chefingenieur gewarnt, der dann das Auto an die Box rufen kann. Geht es um ein Motorenproblem, ist aber nicht der RSR in Brackley, sondern das "Track Support Office" - eine ähnliche Einrichtung - in Brixworth zuständig.
Doch wie ist es überhaupt möglich, dass die Mitarbeiter in Brackley die Autos von Hamilton und Bottas in Echtzeit überwachen, obwohl sie wie am Japan-Wochenende fast 10.000 Kilometer entfernt sind? Tatsächlich stellt das durch die moderne Hightech-Datenübertragung kein Problem mehr darf. Die RSR-Mannschaft erhält innerhalb einer Sekunde Zugriff auf die vollständigen Telemetriedaten von der Strecke. Gleichzeitig haben die Ingenieure an der Strecke Zugriff auf alle Daten, die im RSR erstellt werden.
120 Gigabyte Datentransfer pro Rennwochenende
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Der "Race Support Room" füttert das Team mit den relevanten Daten und Infos Zoom
Im Verlauf eines Rennwochenendes werden rund 120 Gigabyte an Daten geschickt - und zwar in beide Richtungen. Außerdem hat die Crew in Brackley Zugriff auf die gleichen Funksprüche wie das Team an der Strecke - und das mit nur minimaler Verzögerung. Bei einem Europarennen beträgt die Latenz rund 0,3 Sekunden, in Australien bei rund 0,7 Sekunden und bei Suzuka sind es rund 0,5 Sekunden.
Und noch einen Zweck hat der "Race Support Room": Er dient dem Rennstall als Kaderschmiede für Ingenieure. Wer für den Streckeneinsatz ausgebildet wird, durchläuft normalerweise mindestens ein Jahr lang den RSR als erste Stufe der Ausbildung. Dazu kommen Einsätze bei Testfahrten.
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