Analyse: Muss sich Red Bull jetzt vor Ferrari fürchten?
Schwingt sich Ferrari nach dem Doppelsieg in Australien zum großen Formel-1-Rivalen von Red Bull in der Saison 2024 auf? Das sagen die Beteiligten!
(Motorsport-Total.com) - "Es ist lange her, dass wir die echte Pace von Red Bull hatten. Das ist ein sehr ermutigendes Zeichen." So fasst Ferrari-Fahrer Charles Leclerc das jüngste Rennwochenende beim Australien-Grand-Prix 2024 in Melbourne zusammen. Dort hat Ferrari mit Carlos Sainz und Leclerc einen Doppelsieg erzielt und damit die Siegesserie von Red Bull beendet. Aber ist das die Trendwende oder nur eine Momentaufnahme?
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Carlos Sainz im Ferrari vor Sergio Perez im Red Bull beim Formel-1-Rennen in Australien 2024 Zoom
Das will Ferrari-Teamchef Frederic Vasseur noch gar nicht bewerten. Ihm ist der Vergleich zu Red Bull egal, "denn ich konzentriere mich nur auf die Leistung unseres Autos. Und da haben wir einen riesigen Schritt gemacht. Nicht so sehr über eine schnelle Runde, denn da waren wir 2023 schon dabei, aber eben bei der Konstanz über mehrere Stints hinweg und mit unterschiedlichen Reifenmischungen."
Das war im vergangenen Jahr in der Tat ein großes Ferrari-Problem: Auf einen konkurrenzfähigen Stint folgte mitunter ein totaler Leistungseinbruch, womit die Ferrari-Fahrer jegliche Chancen auf vordere Positionen einbüßten. 2024 ist das bisher anders: Der Ferrari SF-24 scheint die Reifen wesentlich weniger stark zu beanspruchen als der SF-23 aus dem Vorjahr.
Das ist auch Red-Bull-Teamchef Christian Horner nicht entgangen: "Ferrari schien [in Melbourne] den Reifenverschleiß besser unter Kontrolle zu haben." Schon die Longruns im Freitagstraining hätten überzeugt und die Rennpace von Sainz im Mittelstint sei dann "ziemlich beeindruckend" gewesen, so Horner. "Das geht nur, wenn man die Reifen in sehr gutem Zustand halten kann."
Warum Melbourne an Las Vegas erinnert
Was Erinnerungen weckt an den Las-Vegas-Grand-Prix aus dem Vorjahr. Denn auch dort hatte Ferrari über die Renndistanz eine gute Figur gemacht und Red Bull unter Druck gesetzt. "Das ist etwas, bei dem Ferrari besonders stark ist", meint Horner. Dass sich in Melbourne der Trend aus Las Vegas erneut zeige, sei daher "wahrscheinlich kein Zufall".
Zumal Ferrari vor Australien schon in Saudi-Arabien gutes Reifenmanagement bewiesen habe, wie Teamchef Vasseur betont: "Da sind wir in der letzten Rennrunde noch die schnellste Runde gefahren. Das zeigt, wir gehen beim Management der Stints in die richtige Richtung. Allerdings sollten wir nicht vorschnell irgendwelche Schlüsse ziehen."
Was man aber nach den drei ersten Rennen der Formel-1-Saison 2024 bereits festhalten könne, das sei eine deutliche Steigerung bei Ferrari, die Leclerc als "extrem wichtig" einstuft. Wo also liegen die Unterschiede zum Vorjahr?
Was bei Ferrari in der Saison 2024 anders ist
Laut Vasseur bestand 2023 "das Hauptproblem" von Ferrari darin, dass der SF-23 schwierig zu fahren gewesen sei. "Die Fahrer mussten das über die Pace kompensieren, aber da macht man dann Fehler und beschädigt die Reifen. Damit wird das zu einer Negativspirale", erklärt der Ferrari-Teamchef.
Der SF-24 erweise sich als wesentlich gutmütiger und sei [für die Fahrer] "viel einfacher zu lesen". Es gelinge Leclerc und Sainz deshalb besser, das Limit zu finden "und ein bisschen darunter zu bleiben", so Vasseur.
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"Das macht es einfacher beim Reifenhaushalt. Man hat insgesamt viel mehr Kontrolle. Und das ist anders als im vergangenen Jahr, als unsere Fahrer praktisch im Überlebensmodus waren. Dabei sind die Reifen ziemlich schnell kaputtgegangen."
Und noch etwas ist anders in diesem Jahr: "Das Auto ist viel einfacher zu entwickeln", sagt Vasseur und bezeichnet diese Eigenschaft als den "wahrscheinlich größten Schritt" im Vergleich zur Vorsaison. Denn jetzt gelinge es Ferrari viel besser, "das Auto recht früh am Wochenende gut einzuschätzen". Das erleichtere die Abstimmungsarbeit erheblich.
Red Bull: Australien-Probleme teilweise aufgearbeitet
Red Bull wiederum ist in Australien in Schwierigkeiten geraten und dominierte weder im Qualifying noch im Rennen. Im Zusammenspiel mit den Las-Vegas-Erfahrungen aus dem Vorjahr erkennt Teamchef Horner darin einen klaren Trend: "Auf Strecken, die durch die Vorderreifen limitiert sind, müssen wir uns noch verbessern."
Genau das habe Red Bull in Australien probiert. Max Verstappen gibt an, die Balance in seinem Red Bull RB20 habe sich bei der Fahrt in die Startaufstellung "ziemlich gut" angefühlt. "Ich fühlte mich zuversichtlich. Es war eine gute Verbesserung im Vergleich zu den Longruns im Training." Laut Horner ist es "nur schade, dass wir das nur vier Runden lang testen konnten". Denn dann war Schluss für Verstappen.
Wie Verstappen den Melbourne-Ausfall verkraftet
Den ersten Ausfall nach rund zwei Jahren aber steckt Verstappen gut weg. Es sei schon "ziemlich beeindruckend", einen solchen guten Lauf bei der Zuverlässigkeit gehabt zu haben. Deshalb sei er "nicht zu so sehr" enttäuscht. "Ich wusste ja, der Tag würde kommen, an dem ich ausfalle. Das war leider jetzt. Aber ja, es gibt Dinge, die kann man nicht kontrollieren."
Umso mehr ist Red Bull nun darauf bedacht, dass sich diese Vorfälle nicht wiederholen. Oder wie es Sportchef Helmut Marko bei Sky formuliert: "Ich hoffe, unsere Probleme waren Melbourne-spezifisch."
Er erkenne zwar einen "erstarkten Ferrari", der "sicherlich eine Gefahr" darstelle für sein Team. "Aber das kann man mit Max wieder in den Griff kriegen, wenn Max problemlos fährt. Ich denke, Max kommt voll motiviert nach Suzuka und wird auf einer richtigen Rennstrecke zeigen, wer hier das Sagen hat."
Glock glaubt an Red Bull in Bestform in Japan
Bei diesen Aussagen wird Sky-Experte Timo Glock hellhörig: "Bei dem Lächeln von Dr. Helmut Marko weiß er ganz genau, dass Max in Japan mit dem Auto wieder zu alter Stärke finden wird."
Der Red Bull RB20 sei zu gut, als dass der WM-Titelkampf ab jetzt komplett offen wäre, meint Glock. Ihn fasziniert "die Dominanz des Autos". Glock weiter: "Man hat auch [in Australien] in den schnellen Kurven gesehen, dass Red Bull einen Schritt vor allen anderen ist." Deshalb glaube er, Red Bull werde in Japan "zu alter Stärke" zurückfinden.
Davon scheint auch Verstappen auszugehen. "Irgendwie reizt mich das", so sagt er, gleich beim nächsten Rennen wieder auf Sieg zu fahren. Es sei aber "keine Selbstverständlichkeit, dass wir [dort] wirklich so konkurrenzfähig sein werden wie im vergangenen Jahr", meint Verstappen. "Ich möchte einfach wieder ein gutes Wochenende haben und mich im Auto wohlfühlen."
Sainz meint: Red Bull bleibt Favorit
Verstappen beschreibt also das, was Ferrari schon in Australien hatte: ein Auto mit Wohlfühl-Faktor, das laut Rennsieger Sainz "wirklich gut funktioniert" hat. Aber lässt sich das auch auf Japan übertragen?
Sainz will nicht zu viel erwarten: "Es dürfte schwierig werden, auf jeder Strecke vorne mitzufahren, solange wir kein Upgrade bringen, mit dem wir die Lücke [zu Red Bull] schließen können." Denn Red Bull sei immer noch die Nummer eins in der Boxengasse.
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Die Ferrari-Fahrer Leclerc und Sainz nach dem Formel-1-Rennen in Australien Zoom
Andererseits habe Melbourne gezeigt: Auch Ferrari habe ein Auto, das sich "von der ersten Runde an wie ein Rennwagen [angefühlt hat], mit dem man gewinnen kann", so Sainz. "Und auch wenn Red Bull ebenfalls schnell war und auf der Pole stand, war es im Qualifying für uns nicht unerreichbar."
Deshalb glaubt Sainz: "Es wird Strecken geben, auf denen wir stark sind, so wie 2023. Und in diesem Jahr scheint unser Renntempo auf diesen Strecken sogar noch besser zu sein. Ich hoffe einfach, dass wir auch mit einem guten Entwicklungs-Programm Red Bull öfter herausfordern können."
Ferrari: Chancen nutzen, besser werden
Leclerc denkt ähnlich und sieht "eine Menge Arbeit" auf Ferrari zukommen, um das Defizit im Vergleich zu Red Bull auszugleichen. "Aber genau so müssen wir es machen: Wann immer wir die Möglichkeit haben, ein Rennen zu gewinnen, müssen wir diese Chance nutzen. Das haben wir am Wochenende geschafft."
"Überhaupt ist es uns in den zurückliegenden drei Rennen gelungen, jedes Mal unser Maximum herauszuholen", erklärt Leclerc. "Das müssen wir so lange tun, bis wir ein Auto haben, das konstant besser ist als der Red Bull, vor allem über die Renndistanz."
Ferrari will Red Bull in weitere Fehler treiben
Doch Red Bull ist bereits gewarnt und erkennt in Ferrari ein "starkes Team mit starken Fahrern und einem ordentlichen Auto", so beschreibt es Teamchef Horner. Red Bull habe in Australien einen "harten Tag" erlebt und Ferrari habe davon profitiert. "Es ist also wieder alles offen, und das bei nur noch 21 zu fahrenden Rennen."
Denn Ferrari hat viel Selbstvertrauen gesammelt durch den jüngsten Formel-1-Erfolg. "Und das ist ein wichtiger Teil in diesem Geschäft", sagt Ferrari-Teamchef Vasseur.
"Australien ist ein gutes Zeichen dafür, dass wir [Red Bull] ein wenig unter Druck setzen können, wenn wir alles in die Waagschale werfen. Ich bin mir zwar nicht sicher, ob uns das jedes Wochenende gelingt, aber wenn Red Bull unter Druck steht, wird es mehr Fehler machen. Darauf müssen wir hinarbeiten."
Die Siegstatistik interessiert Red Bull nicht - oder doch?
Doch solche Kampfansagen lassen Red-Bull-Sportchef Marko kalt. Er meint: Verstappen hätte in Australien ohne die technischen Probleme am RB20 "natürlich gewinnen können". Er will ausdrücklich "positiv denken" und nimmt den Ausfall sogar mit Humor: "Die Frage, die ihr uns gestellt habt, 'können wir jedes Rennen gewinnen', die ist jetzt weg. Wir haben dieses Problem also nicht mehr."
Verstappen reagiert ähnlich auf die Bemerkung, dass seine Siegesserie nun gerissen sei. "Für sowas", sagt er, "interessiere ich mich eigentlich nicht. Ich will einfach nur gewinnen. Ob es der zweite oder elfte Sieg in Folge ist oder was auch immer, das ist für mich eigentlich nicht wichtig. Das Wichtigste ist, dass wir die Meisterschaft gewinnen."
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