Zweiter Anlauf für neues Qualifying: "Da müssen wir durch!"
Laut Sebastian Vettel eine Schande für die Formel 1, Toto Wolff dünkt das nächste Debakel: Die "Reise nach Jerusalem" ist schon vor ihrer Wiedergeburt begraben
(Motorsport-Total.com) - Die Formel 1 steuert auf die nächste Welle der Entrüstung zu, wenn beim Bahrain-Grand-Prix am Samstag das "Reise-nach-Jerusalem"-Qualifyingformat seine zweite Chance erhält - und seine letzte, glaubt man der einhelligen Meinung im Paddock, wo der neue Modus längst keine Freunde mehr hat. Das gilt auch für die Fans: In einer Umfrage von 'Motorsport-Total.com' mit 3.859 abgegeben Stimmen bezeichnen 89,06 Prozent die Regeländerung als "schlecht", nur 10,94 Prozent als "gut".
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Sebastian Vettel hat wenig Lust auf die zweite Ausgabe des neuen Qualifyings Zoom
Dass nicht sofort die Reißleine gezogen wurde - wie es die Teams eigentlich nach der missglückten Premiere in Australien vereinbart hatten - sorgt weiter für Erstaunen. Mercedes-Pilot Nico Rosberg kratzt sich am Kopf: "Alle waren dagegen. Alle wissen, dass es nicht gut ist, und trotzdem haben wir es wieder. Das ist doch merkwürdig!" Sebastian Vettel hält das Format für "Quark" und glaubt, dass die Königsklasse die Interessen der TV-Zuschauer und die Besucher an der Strecke mit Füßen treten würde.
Der Ferrari-Star zeichnet eine Metapher: "Du verkaufst Eis: die Sorte Vanille. Jeder, der in deinen Laden kommt, will Schokolade. Am nächsten Tag sperrst du auf und alle sind überzeugt, du würdest Schokolade anbieten. Stattdessen verkaufst du wieder Vanille." Vettel hält die Politik der Formel-1-Verantwortlichen für ein Eigentor und scheint sich für so viel Ignoranz zu schämen: "Man macht nicht, was der Kunde will, sondern das genaue Gegenteil. Darauf können wir nicht stolz sein", so der Deutsche.
Toto Wolff befürchtet: "Es wird nicht unterhaltsamer"
Doch die FIA bot den Teams - offenbar in Absprache mit Bernie Ecclestone - für Bahrain nur zwei Optionen an: Die "Reise nach Jerusalem" oder eine Variante nur mit Q3 im alten Format. Nicht die komplette Rückkehr zum 2015er Modus. Die Hybridlösung wollten Red Bull, McLaren, Williams und Toro Rosso nicht. Sie stellten sich quer und sorgten für den Eklat, jetzt müssen alle anderen die Suppe mit auslöffeln und sich die Schmähkritik anhören. Mercedes-Sportchef Toto Wolff graust es schon.
Er unkt: "Wir haben mit dieser Änderung nicht das richtige Format gefunden und es ist schwierig, daran zu glauben, dass es für die Fans an diesem Wochenende in Bahrain unterhaltsamer sein soll", so Wolff, der die Formel 1 für "diesbezüglich unter Beobachtung" hält. "Deshalb müssen wir genau nachdenken, um koordinierte, intelligente Schritte zu machen. Fans wünschen sich enges Racing, einen Modus, den sie verstehen, sowie Duelle zwischen den besten Fahrern und Autos der Welt - in dieser Reihenfolge." Auch Nico Hülkenberg bläst die Backen auf und sagt: "Da müssen wir jetzt durch."
Warum die kleinen Teams im Nachteil sind
Es ist zu befürchten, dass in Bahrain neue Probleme das Qualifying erschüttern. Ist es heiß, ist mehr als eine fliegende Runde mit den Supersoft-Reifen nicht drin. Die Fahrer sitzen nach einem Fauxpas auf der schnellen Runde in der Zwickmühle: Einen mäßigen Umlauf zu Ende fahren oder an die Box kommen und einen neuen Versuch starten, aber das Risiko eingehen, ohne Zeit rauszufliegen, weil die Eliminierung beginnt? "Wenn man eine schnelle Runde mit Fehler durchzieht, kann man nicht mehr antworten, weil die Reifen am Ende sind", erklärt Renault-Pilot Jolyon Palmer das Problem.
Force-India-Pilot Sergio Perez stimmt zu: "Der schlechte Teil des Qualifyings bleibt für mich Q3. Wenn in den letzten vier Minuten alles entschieden ist...", schüttelt er den Kopf. Es mangelt an Pneus, wie auch Toro-Rosso-Teamchef Franz Tost aufgefallen ist: "Alle Autos, die in Q3 kommen, müssen zwei Reifensätze zur Verfügung haben", fordert er. Durch die Problematik sind die kleinen Teams im Nachteil, weil sie früher die weicheren Reifenmischungen nutzen müssen, um die Hürden zu nehmen.
Sauber-Pilot Marcus Ericsson erläutert, warum die dauernde Jagd auf Zeiten zu Beginn ein Schlag in das Kontor ist: "Es ist ein Nachteil für die Kleinen, weil du alle deine Pneus schon in Q1 verwendest. Jetzt kannst du als kleines Team maximal in Q2 kommen. Dort hast du keine Reifen mehr, um eine überraschend gute Runde hinzulegen." Der Schwede folgert mit etwas Verbitterung in der Stimme: "Der Abstand zu den größeren Mannschaften wird durch das neue Format größer."
"Kids verstehen es": Nur Jackie Stewart verteidigt das neue Format
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Hält es mit der alten Schule: Mark Webber will die Rolle rückwärts Zoom
Auch Mark Webber sieht im Gespräch mit der 'Daily Mail' schwarz: "Wir sind jetzt wieder auf dem Stand Melbourne. Sogar wenn es optimal läuft, wird es kaum so gut wie das, was wir mal hatten." Er will sich von der Idee eines Ausscheidungsfahrens, das seit 2006 Teil des Reglements ist, verabschieden: "Der Mist ist: Wir konzentrieren uns auf den Piloten, der rauszufliegen droht - auf einen Nico Hülkenberg, auf einen Sergio Perez oder auf einen Esteban Gutierrez. Wir müssen aber auf die großen Jungs schauen, die um die ersten Reihen kämpfen", moniert der frühere Red-Bull-Star.
Webber wünscht sich simple Regeln und, dass unter Piloten Duelle um jede Tausendstelsekunde entstehen und drängt auf eine Rückkehr zu einem klassischen Format, wie es bis 2003 Bestand hatte. "Es hat sich so viel geändert - wir sind aber noch immer damit beschäftigt, den Sport zu erklären. Es wird nur geredet. In Australien konnte niemand auf Zeiten antworten, weil es an Reifen und an Zeit mangelte." Jenson Button widerspricht teilweise. Er findet, dass die Formel 1 durchaus neue Ideen verträgt: "Dieser Sport ist ganz anders als Fußball oder Tennis. Es handelt sich um einen sehr technischen Sport."
Doch es gibt sie noch: Die Formel-1-Größen, die das neue Format nicht kritisieren. Jackie Stewart erklärt 'auto motor und sport': "Unsere Generation sagt: zu kompliziert, zurück zum alten System. Die Kids kapieren das sofort. Sie denken ganz anders als wir. Sie akzeptieren es als etwas Neues." Laut dem Schotten stünde der dauernde Vergleich mit der Vergangenheit neuen Ideen im Wege, was der Formel 1 ein kränkelndes Außenbild bescheren würde. Vielmehr interessierten sich aber große Firmen für ein Engagement, was Beweis für die ungebrochene Popularität der Rennserie wäre.
Damit sich doch noch etwas ändert, muss Folgendes passieren: Die Strategiegruppe einigt sich auf einen Vorschlag, dann stimmt die Formel-1-Kommission darüber ab - Änderungen sind jedoch nicht möglich, es gibt nur ein "Ja" oder ein "Nein". In diesem Gremium ist Einstimmigkeit unter den Teams (nicht unter allen Beteiligten) notwendig, sondern es reichen 18 von 26 Stimmen. Gibt es insgesamt eine Mehrheit für einen Entwurf, geht dieser an den Motorsport-Weltrat der FIA, der ihn absegnen muss. Erst dann kann er umgesetzt werden.
Das Qualifying-Debakel der Formel 1 in der Chronologie:
23. Februar: Der neue Modus (von den Medien "Reise nach Jerusalem" getauft) wird von Strategiegruppe/Kommission beschlossen.
27. Februar: Die Premiere wird von Melbourne auf Barcelona verschoben, weil Bernie Ecclestone sagt, man bekomme die TV-Software nicht rechtzeitig fertig.
4. März: Der FIA-Motorsport-Weltrat segnet den neuen Qualifying-Modus offiziell und endgültig ab. Nun doch schon für Melbourne. Die TV-Software ist plötzlich kein Thema mehr.
19. März: Das neue Qualifying feiert Weltpremiere. Die Reaktionen reichen von "Mist" (Toto Wolff) über "Griff ins Klo" (Niki Lauda) bis hin zu Christian Horner, der findet, man sollte sich dafür bei den Fans entschuldigen.
20. März: Bei einem Meeting in Melbourne entscheiden die Teamchefs, mit sofortiger Wirkung zum 2015er-Modus zurückzukehren.
23. März: Bei einem Meeting der Strategiegruppe steht eine Rückkehr zum 2015er-Modus plötzlich gar nicht mehr zur Abstimmung. Die Teams können sich nur entscheiden zwischen Melbourne-Modus und einer Variante davon mit Q3 ohne Ausscheidungsfahren. Es wird keine Einstimmigkeit erzielt, also bleibt der Melbourne-Modus.