• 22.04.2025 13:20

  • von Codling, Gaillard, Karpov, Boxall-Legge, Übersetzung: Ziegengeist

Meinung zur Verstappen-Strafe: Funktionieren die Racing-Richtlinien?

Die Strafe gegen Max Verstappen in Dschidda entfacht erneut die Diskussion um die Richtlinien in der Formel 1 - Wie fair ist das aktuelle System?

(Motorsport-Total.com) - Max Verstappen kassierte eine Fünf-Sekunden-Strafe für seinen Vorfall mit Oscar Piastri zu Beginn des Grands Prix von Saudi-Arabien - und die Meinungen im Fahrerlager über das Urteil der Rennkommissare waren gespalten.

Titel-Bild zur News: Max Verstappen, Oscar Piastri, George Russell, Charles Leclerc

Max Verstappen wurde für sein Manöver in der ersten Kurve bestraft Zoom

Die Entscheidung, dem Red-Bull-Piloten eine Fünf-Sekunden-Strafe dafür zu geben, dass er die Strecke verließ und sich dadurch einen Vorteil verschaffte - indem er Kurve 2 abkürzte, um die Führung gegen Oscar Piastri zu behalten - brachte erneut die Debatte über die Racing-Richtlinien in der Formel 1 auf.

Was dürfen Fahrer beim Positionskampf auf der Strecke und was nicht? Funktionieren die Racing-Regeln überhaupt? Unsere Kollegen von Motorsport.com, einer Schwesterplattform von Motorsport-Total.com, teilen ihre Einschätzungen.

Stuart Codling: Es wird immer Grauzonen geben, wer vorne ist

Regeln, Richtlinien, wie auch immer - wir haben letztes Jahr beim US-Grand-Prix mit dem Duell Verstappen vs. Norris gesehen, dass es Grauzonen bei der Frage gibt, was akzeptabel ist. Damals besagten die Richtlinien, dass derjenige, dessen Vorderachse am Scheitelpunkt vorne liegt, Anspruch auf die Kurve hat.

Wie sich damals gezeigt hat, ist es für einen Fahrer vom Kaliber eines Verstappen ein Leichtes, einen Angriff außenrum zu vereiteln, indem er die Bremsen löst - in dem Wissen, dass er die Kurve zwar niemals kriegen wird, aber er dann als der mit der richtigen Achsposition gilt, während der andere von der Strecke abkommt.

Diese Richtlinien wurden dann nach dem Vorfall geändert - auf Wunsch der meisten Fahrer, die sich dazu äußerten. Verstappen nutzte die Grauzonen in ihren Augen zu extrem aus.

Daher ist es zu begrüßen, dass die Stewards in Saudi-Arabien standhaft blieben, trotz der Lobbyarbeit von Red Bull. Es wird in solchen Fällen immer ein gewisses Maß an Subjektivität geben, und letztlich entschieden die Stewards, dass die Umstände eine Fünf-Sekunden-Strafe rechtfertigten - und keine zehn.


Warum Red Bull die Verstappen-Strafe nicht versteht

Aber es war eindeutig, dass Verstappen die Kurve niemals hätte nehmen können, während Piastri auf der idealen Linie war. Als Christian Horner dann zur Pressekonferenz nach dem Rennen mit einem Stapel Screenshots erschien, die Verstappen vorne zeigten, war das ein durchsichtiger und plumper Versuch, die Angelegenheit über Medien und Fans zu drehen, nachdem man bei den Stewards schon verloren hatte.

Zu dem Zeitpunkt der Bilder war Verstappen längst über den Punkt hinaus, an dem man noch hätte einlenken können. Natürlich wird es Leute geben, die Horners Version glauben - und vielleicht bekommt er sogar, was er will: eine "Neubewertung" der Richtlinien. Doch wozu? Um neue Grauzonen zu schaffen?

Fabien Gaillard: Die Strafen sind heutzutage zu lasch

Da die Richtlinien den Stewards als Grundlage zur Beurteilung dienen, erfüllen sie ihren Zweck grundsätzlich gut. Allerdings, wie wir am Ende der letzten Saison gesehen haben, sind die Grundprinzipien flexibel - denn wenn sich mehrere kontroverse Vorfälle in kurzer Zeit häufen, werden die Richtlinien schnell angepasst.

Aber das Beispiel Verstappen vs. Piastri spricht für sich: Man kann noch so viele Richtlinien aufstellen - wenn ein Fahrer bewusst entscheidet, dass es besser ist, eine Kurve abzukürzen, um vorne zu bleiben (und dafür eventuell eine Strafe zu kassieren), als die Position auf der Strecke zu verlieren oder sie später zurückzugeben, dann sind die Richtlinien wertlos.

Wenn die Strecke keine bessere Lösung bietet, müssen Strafen abschreckend wirken. Dass Verstappen in Kurve 1 mit absurdem Tempo außen reinzieht, wohl wissend, dass er es niemals auf der Strecke schaffen kann - und dafür nur eine Fünf-Sekunden-Strafe bekommt, weil es die erste Runde war - ist fast schon lächerlich.

Die heutigen Strafen in der Formel 1 für Vergehen auf der Strecke sind im Vergleich zu früheren Jahrzehnten erschreckend milde. Härtere Strafen wären ein guter Weg, Fahrern und Teams in Erinnerung zu rufen, dass es Konsequenzen nach sich zieht, wenn man die Regeln bricht und die Richtlinien ignoriert.

Oleg Karpov: Richtlinien sind gut, aber am Ende entscheiden Menschen

Wann immer es eine umstrittene Entscheidung der Stewards gibt - und es scheint, als wären sie immer umstritten, wenn ein Rennsieg auf dem Spiel steht - wird es zwangsläufig Menschen geben, die anderer Meinung sind. Doch bei all dem Aufschrei über fehlende Konsequenz sollte man vielleicht auch anerkennen, dass etwas funktioniert, wenn die Entscheidungen nachvollziehbar sind.

Natürlich fühlt sich Verstappen ungerecht behandelt (oder er sagt es zumindest) - aber abgesehen von ihm und seinen Bossen dürften nur wenige im Fahrerlager das Urteil der Stewards über den Vorfall in Kurve 1 in Frage stellen.

Am Ende kann man seitenweise Richtlinien schreiben - aber da kein Vorfall dem anderen gleicht, braucht es immer einen Menschen, der die Entscheidung trifft. Und das ist kein einfacher Job, denn irgendjemand wird sich immer bei den Medien ausheulen oder mit vermeintlichen "Beweisen" wedeln, um zu zeigen, dass er im Recht ist. So läuft es nun mal.


F1: Grand Prix von Saudi-Arabien (Dschidda) 2025

Jemand musste die Entscheidung treffen - und für mich fühlt es sich zumindest so an, als gäbe es einen viel größeren Aufschrei, wenn Verstappen ungestraft davongekommen wäre.

Man kann sich seine Onboard-Aufnahmen Bild für Bild anschauen und im richtigen Moment anhalten, um zu sehen, wo seine Räder im Vergleich zu Piastris McLaren stehen - aber die Stewards sind auch nicht neu in der Serie und wissen vermutlich genau, dass Verstappen niemals freiwillig die Führung abgibt.

Man kann es ihnen nicht verübeln, wenn sie den Verdacht haben, dass es nicht das erste Mal war, dass er einfach das Bremspedal gelupft hat, um am Scheitelpunkt vorne zu sein. Und ja, genau für solche Situationen braucht es einen Menschen, der einfach sagt: "Das war jetzt wirklich unverschämt."

Für mich war die Fünf-Sekunden-Strafe die passendste Sanktion. Sie hatte die gewünschte Wirkung: Verstappen fiel hinter Piastri zurück. Und dabei sollte die Diskussion auch enden. Aber natürlich wird es immer Gegenstimmen geben.

Jake Boxall-Legge: Nicht die Richtlinien, die Strecken sind das Problem

Ich denke nicht, dass es ein grundsätzliches Problem mit den Racing-Richtlinien gibt. Die meisten Fahrer haben keine Schwierigkeiten, sich daran zu halten. Nach dem Duell Verstappen vs. Piastri in Kurve 1 von Dschidda ist ein deutliches Zeichen gesetzt worden.

All die Diskussionen darüber, wer in welcher Position ein "Recht" auf die Kurve hat, mögen etwas schwammig wirken - aber es ist klar: Die Stewards tolerieren es nicht mehr, wenn jemand einfach die Bremsen löst, um gleichauf in die Kurve zu kommen. Jetzt, da es einen Präzedenzfall für dieses Verhalten in der ersten Runde gibt, muss man sich fragen: Ist eine Fünf-Sekunden-Strafe das Risiko wert?

Damit sind wir bei meinem Hauptargument: Würde dieser Vorfall auch passieren, wenn statt Asphalt-Auslaufzonen Kies oder Gras dort wären? Die Antwort ist - wie immer - nein.

Man muss denjenigen etwas Anerkennung zollen, die sich die Lösung mit blau umrandeten weißen Linien und Kiesbetten am Kurvenausgang ausgedacht haben. Sie haben die Verstöße gegen die Streckenbegrenzungen an diesen Stellen nicht vollständig beseitigt, aber immerhin führen sie dort zu einer sofortigen Bestrafung.

Wenn man allerdings eine erste Kurve hat, die von einer weißen Linie und einer Asphaltfläche umgeben ist, gibt es nichts, was einen davon abhält, einfach quer durchzufahren und eine Strafe in Kauf zu nehmen. Laut FIA-Richtlinien gilt: Wenn du abkürzt und dir dadurch einen Vorteil verschaffst, ist das eine Zehn-Sekunden-Strafe.

Verstappen bekam nur fünf, weil es in der ersten Runde passierte. Wenn du glaubst, du kannst dir die Führung holen und dir einen Vorsprung von fünf oder zehn Sekunden herausfahren - warum solltest du es nicht einfach versuchen? Genau das erlaubt das aktuelle System. Und wenn du denkst, dass das nicht im Geiste des Sports ist, hast du recht. Stimme für Veränderung. Stimme für Gras/Kies.