Kollision mit Sainz: War es wirklich so "glasklar" Russells Schuld?

George Russell nimmt die Startkarambolage mit Carlos Sainz in der ersten Kurve in Austin auf sich, dabei sehen nicht alle die Schuld so eindeutig bei ihm

(Motorsport-Total.com) - Carlos Sainz hatte seiner Kollision mit George Russell beim Grand Prix der USA 2022 in Austin, Texas, einen dicken Hals: "Die Strafe", sagt er über die fünf Sekunden, die der Mercedes-Fahrer für den Rammstoß in Kurve 1 auferlegt bekam, "war verdient. Ob fünf Sekunden angemessen sind oder doch eher zehn Sekunden Stop & Go, dazu werde ich mich nicht äußern."

Titel-Bild zur News: Max Verstappen, Carlos Sainz, Lewis Hamilton

Sekunden vor dem Crash: Sainz (ganz links) wird gleich von Russell (ganz rechts) aufgespießt Zoom

Dass er von sich aus ein härteres Strafmaß nennt als das, das die FIA-Rennkommissare ausgesprochen haben, lässt aber tief blicken. Und ist nicht weiter verwunderlich: Endlich war Sainz einmal aus eigener Kraft auf Poleposition gefahren, erst zum zweiten Mal in dieser Saison (nach Silverstone), und dann platzte der Traum vom Sieg gleich nach elf Sekunden.

Auf Russell war der Ferrari-Pilot im ersten Interview, als das Rennen noch lief, folgerichtig nicht gut zu sprechen: "So einen Unfall hat man auf den ersten drei Positionen dieses Jahr noch nie gesehen, weil Fahrer, die in den Top 4 liegen, solche Fehler normalerweise nicht machen. Ist ganz einfach. Man muss sich ja nur die Bilder anschauen", grummelt er.

Dabei gibt es durchaus auch eine andere Sichtweise auf den Crash: "Ich sah, dass Carlos nach innen zog, hatte aber damit gerechnet, dass er außen bleibt", schildert Russell. "Als mir klar wurde, dass dem nicht so ist, versuchte ich zurückzustecken. Aber da war ich schon mitten im Bremsvorgang und die Berührung unvermeidlich."

Die TV-Bilder stützen Russells Darstellung: Er war gerade damit beschäftigt, sich innen gegen Lewis Hamilton zu behaupten, als sein linkes Vorderrad kurz stehenblieb und etwas Qualm verursachte. Von da an war klar, dass er die nächsten Meter geradeaus fahren würde. Doch just in dem Moment traf Sainz die Entscheidung, von rechts nach links zu ziehen.

Russell sucht nicht nach Ausreden

Russell versucht trotzdem nicht, die Strafe an sich in Frage zu stellen: "Ich bin zu Carlos gegangen und habe mich bei ihm entschuldigt", räumt er ein, denn: "Als Rennfahrer muss einem klar sein, welche Möglichkeiten vor einem eintreten können. Ich nehme das auf meine Kappe. Mehr gibt's dazu eigentlich nicht zu sagen."

Mercedes-Teamchef Toto Wolff nimmt ihn ungeachtet der kritischen Selbsteinschätzung in Schutz: "Für mich war das ein Rennunfall. Wäre ich Kommissar gewesen, hätte ich gesagt: George hat spät gebremst, hatte einen kurzen Moment des Untersteuerns, und dann zog Carlos ziemlich brutal nach innen."

Surer & Danner: Experten diesmal nicht einer Meinung

Eine Einschätzung, die man vom Mercedes-Teamchef nicht anders erwarten würde, die aber auch der neutrale 'Motorsport-Total.com'-Experte Marc Surer teilt. Er bewertet die Situation als "Rennunfall" und unterstreicht: "Die Strafe fand ich unfair, da Sainz nach innen gezogen ist."

Eine Meinung, die im Paddock sicher nicht mehrheitsfähig ist. Für Christian Danner etwa ist die Sache "klar: Russel ist ihm volle Kanne ins Auto gefahren. Meiner Ansicht nach ist es einhundertprozentig glasklar Russells Schuld."

Und weiter: "Die Strafe war nur fünf Sekunden. Für den einen war das Rennen zu Ende, der andere konnte munter weiterfahren. Mir ist die Strafe zu mild", kritisiert der Formel-1-Experte im 'AvD Motor und Sport Magazin' auf 'SPORT1'.

Russell kämpfte mit stumpfen Waffen

Sainz schied letztendlich wegen eines kaputten Kühlers aus, während Russell zwar hinter Hamilton und Lance Stroll zurückfiel, das Rennen aber an vierter Stelle fortsetzen konnte. Was da noch nicht klar war: "Georges Frontflügel - ich habe ihn selbst gesehen - war massiv beschädigt", berichtet Wolff.

Das schlug sich in den Rundenzeiten nieder: Bis zur ersten Safety-Car-Phase in Runde 18 verlor er 13,8 Sekunden auf Hamilton. "Anfangs dachte ich", sagt er, "der Schaden sei nicht so groß. Aber ich muss sagen, es war der schlechteste Rennsonntag meines Jahres. Das Auto rutschte an allen Ecken und Enden, und die Balance war selbst innerhalb des Stints nicht konstant."

"Das einzig Merkwürdige war, dass mein Mittelstint relativ konkurrenzfähig war, als ich hinter 'Checo' und Charles feststeckte. Ich konnte mich ein paar Runden lang in ihrem DRS-Fenster halten. Aber im ersten und letzten Stint war ich nirgendwo. Als mir klar wurde, dass ich mit den beiden nicht mithalten kann, ging es nur noch darum, das Auto ins Ziel zu bringen."

Wolff: Ein Wunder, dass das Auto überlebt hat

"Sehr schade", bedauert Wolff, "aber wir müssen die fünf Sekunden mit Fassung tragen. So, wie er den Ferrari aufgespießt hat, waren wir überrascht, dass es kein DNF war. Der Frontflügel war aber wirklich stark beschädigt. Nicht nur die Endplatte, sondern auch drunter, und das ist der Teil, der für die Aerodynamik am wichtigsten ist."


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Letztendlich kam Russell als Fünfter ins Ziel - und holte sich sogar noch den Bonuspunkt für die schnellste Rennrunde ab, weil er kurz vor Schluss genug Vorsprung auf Fernando Alonso und Lando Norris hatte, um noch einmal frische Reifen aufziehen zu lassen. In der WM liegt Russell jetzt an vierter Stelle, 16 Punkte vor Sainz.

Der ärgert sich seinerseits, dass sein Start von der Poleposition "nicht der beste" war, und findet, dass jener von Max Verstappen "richtig gut" gewesen sein muss. Sainz rätselt: "Wir haben hier schon oft gesehen, dass der Zweite besser wegkommt als der Erste. Vielleicht gibt's dafür einen Grund, den wir noch nicht verstehen."