Formel-1-Serie: Übertreibt es Netflix mit seiner künstlerischen Freiheit?
Wie ernst nimmt es Netflix als Produzent der Formel-1-Serie "Drive to Survive" mit der Wahrheit und wie viel künstlerische Freiheit ist in Ordnung für die Beteiligten?
(Motorsport-Total.com) - Hat es Netflix mit der vierten Staffel seiner Formel-1-Serie "Drive to Survive" übertrieben? Diese Frage beschäftigt viele Fans der Motorsport-"Königsklasse" und auch die Beteiligten selbst, nachdem sich der Streaming-Konzern bei seiner Rückschau auf die Formel-1-Saison 2021 teilweise wieder viele künstlerische Freiheiten genommen hat, um die realen Ereignisse zusätzlich zu dramatisieren.
© Netflix
Poster zur vierten Staffel der Netflix-Serie Drive to Survive und der Formel-1-Saison 2021 Zoom
Und: Max Verstappen als späterer Weltmeister hat auf seine Teilnahme an der vierten Staffel komplett verzichtet, weil die Macher der Serie "Rivalitäten erfunden" hätten und es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen würden, so Verstappen schon vor Saisonbeginn.
Verstappens Äußerungen hatten bereits eine Diskussion darüber ausgelöst, wie sehr das Serien-Drehbuch von der Realität abweichen dürfe. Und diese Diskussion ist nach Beginn der Ausstrahlung von Staffel vier unmittelbar vor dem Saisonauftakt 2022 neu entfacht, wenngleich die Formel 1 weltweit von ihrer Netflix-Präsenz profitiert, weil die Serie ein neues Publikum anspricht.
Netflix-Serie wird mehr und mehr skeptisch beäugt
Allerdings scheinen inzwischen nicht mehr alle Beteiligten zweifelsfrei hinter dem Serien-Projekt zu stehen. Verstappen zum Beispiel hat bereits angekündigt, den Netflix-Kameras auch 2022 fernbleiben zu wollen. Er könne sich höchstens vorstellen, die Serie anzuschauen, "um zu sehen, wie übertrieben sie ist", so sagt er.
Skepsis war auch schon im Anschluss an das Formel-1-Finale 2021 in Abu Dhabi geäußert worden. Ein Fahrer erklärte nach dem Rennen, die Schlussphase sei "für das Fernsehen" inszeniert worden. Und nicht erst seither ist das Internet voll von Memes, die "Drive to Survive" und den Hang der Serie zu großem Drama aufs Korn nehmen, indem teilweise banale Szenen maßlos übertrieben werden.
Wie Sainz die Darstellung seiner Person empfindet
Auch Staffel drei zur Saison 2020 war nicht überall gut angekommen. Darin wurde unter anderem das Verhältnis der damaligen McLaren-Teamkollegen Carlos Sainz und Lando Norris beleuchtet. Die Netflix-Serie suggerierte Spannungen zwischen Sainz und Norris, die es in der Realität aber nicht gab.
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Nun sagt Sainz: "In diesem Fall hat man es ein bisschen übertrieben. Und alle Fans rund um die Welt wissen, dass Netflix bei Lando und mir wahrscheinlich einen Schritt zu weit gegangen ist."
"Ich glaube aber auch, dass sich Netflix dessen bewusst ist. Man ist dort dazu in der Lage, Fehler einzuschätzen und zu korrigieren. Sie werden sich anpassen und vielleicht versuchen, es in dieser Richtung etwas realistischer zu gestalten", meint Sainz.
Klar ist: Manche Szenen sind gestellt
Natürlich: Die Netflix-Kameras sind nicht immer zur Stelle, wenn etwas von großer Tragweite passiert. Deshalb werden manche Szenen nachgestellt, um den roten Faden der Serie zu erhalten. Ein Beispiel dafür ist das Telefonat zwischen Christian Horner und Sergio Perez am Ende der dritten Staffel, was den Eindruck erwecken soll, Perez erfährt in diesem Gespräch, dass er 2021 bei Red Bull fährt.
Auch das Treffen von Toto Wolff und George Russell in Zandvoort aus Staffel vier ist so ein Fall: Die Netflix-Kamera ist dabei, als Wolff Russell über seine Beförderung zu Mercedes für 2022 informiert. Dabei hatte man Russell bereits gut zwei Wochen vorher in Spa über die weiteren Karrierepläne in Kenntnis gesetzt.
Und weil Verstappen Netflix in der Saison 2021 ferngeblieben ist, wird der Titelkampf zwischen ihm und Mercedes-Fahrer Lewis Hamilton aus Red-Bull-Sicht durch Teamchef Horner kommentiert, mit praktisch ständig neuen Sticheleien in Richtung Mercedes. Aber wie welche Szenen zusammengeschnitten wurden, das bleibt unklar.
Teamchef zeigt Verständnis für Netflix-Drehbuch
Horner selbst sagt dazu schlicht: "Die Saison 2022 war unheimlich intensiv. Und eine Dokuserie wie 'Drive to Survive' ist unterm Strich eine Show fürs Fernsehen. Man nimmt Ausschnitte aus einem Titelkampf, der sich über die komplette Saison erstreckt, und verwandelt das in ein Fernsehprogramm. Und natürlich hat die Formel 1 damit ihr Publikum deutlich vergrößert."
© Motorsport Images
Die Rivalität zwischen Mercedes und Red Bull ist ein großes Thema der vierten Staffel Zoom
"Nicht vergessen" darf man aber laut Horner: "Die Serie wurde entwickelt, um Unterhaltung zu bieten. Daher fließen auch einige Entertainment-Elemente ein, und manchmal stammen die nicht mal vom jeweiligen Rennen", so erklärt der Teamchef.
McLaren-Fahrer Norris ergänzt: "Es gibt sicher Kommentare oder Szenen hier und da, die vielleicht fehl am Platz wirken. Wenn du die Person bist, um die es dabei geht, dann bist du damit vielleicht nicht so sehr einverstanden. Denn es kann den Anschein erwecken, dass du irgendwann irgendwo etwas gesagt hast, was aber einfach so nicht stimmt."
Wie viel Abweichung ist erlaubt für Netflix?
Norris selbst nennt ein Beispiel aus der dritten Staffel. Es geht um ein Duell zwischen ihm und seinem damaligen McLaren-Teamkollegen Sainz bei einem Rennen in Spielberg. "Wir gehen Seite an Seite in die erste Kurve, aber es ist nicht mal eng. Doch ich behaupte [in der Serie], er drängt mich ab. Und [dieser Funkspruch] stammt aus einem völlig anderen Grand Prix", sagt Norris.
Sein Eindruck: "Manche Dinge gehen ein bisschen zu sehr in diese Richtung. Und vielleicht bin ich damit nicht besonders einverstanden."
Fans der Serie, die die Formel 1 vielleicht nur durch "Drive to Survive" kennen, fallen solche Unstimmigkeiten möglicherweise nicht einmal auf. Doch die Macher bekämen wohl ein Problem, sollten mehr Fahrer und/oder Teams wie Verstappen handeln und auf ihre Teilnahme an der Serie verzichten. Denn eine Serie wie "Drive to Survive" ist auf Persönlichkeiten angewiesen.
Wenn die Balance gewahrt bleibt, dann ...
Für den Moment aber hat Netflix nichts zu befürchten, denn für die Meisten überwiegen die Vorteile der Formel-1-Serie noch immer die Nachteile, die daraus entstehen. Oder wie es Norris formuliert: "Es ist ja immer noch spannend und gut für alle Beteiligten, solange man es nicht übertreibt und jemanden so darstellt, als tue er etwas, was er definitiv nicht getan hat. Das ginge zu weit. Und wenn das nicht passiert, ist alles in Ordnung."
Sainz äußert sich ähnlich: "Ich halte [die] Netflix [-Serie] immer noch für gut für mich und die Formel 1 als Marke. Und wenn ich weiterhin gewünscht werde, dann werde ich weiter dabei sein."
Netflix muss also weiter abwägen zwischen Realität und dramatischer Zuspitzung, ohne sich dabei zu sehr vom echten Geschehen zu entfernen. Entscheidend dabei ist aber vor allem: Die Serie richtet sich nicht an langjährige Formel-1-Fans, sondern an Gelegenheitszuschauer, die die Formel 1 mehr und mehr für sich gewinnen will. Hier ist "Drive to Survive" ein wichtiger Faktor.
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