Brawn-"Märchen" 2009: "Die Ingenieure müssen sich verrechnet haben!"

Der Moment, in dem Ross Brawn klar wurde, dass er die Formel 1 auf den Kopf stellen würde: Wie groß die Zweifel am "Brawn-Märchen" 2009 wirklich waren

(Motorsport-Total.com) - Jerez de la Frontera in Spanien im März 2009: Beim ersten großen Gruppentest der Formel 1 erzielt Sebastian Vettel im Red Bull RB5 mit 1:19.055 Minuten die klare Bestzeit vor Toyota-Fahrer Timo Glock. Etwa 1.750 Kilometer weiter nördlich in Brackley in England sorgt das für Entsetzen: Die Mitarbeiter des neuen Brawn-Rennstalls stellen ihr gesamtes Projekt in Frage.

Titel-Bild zur News: Jenson Button im Brawn BGP 001 bei Formel-1-Tests 2009 in Barcelona

Jenson Button im Brawn BGP 001 bei Formel-1-Tests 2009 in Barcelona Zoom

Hinter der Mannschaft des ehemaligen Honda-Werksteams liegen zu diesem Zeitpunkt etliche nervenaufreibende Wochen der Ungewissheit, nachdem Honda im Dezember 2008 plötzlich den Ausstieg verkündet hatte. Doch Teamchef Ross Brawn machte weiter, übernahm das Team und führte es in Eigenregie weiter.

Nun gibt es ein fertiges Auto. Aber knapp drei Wochen vor Saisonstart 2009 kommen Brawn ganz große Zweifel.

Warum Brawn plötzlich Zweifel kamen

In der mehrteiligen Disney-Dokumentation "Brawn: The Impossible Formula 1 Story" erklärt Teamchef Brawn: "Wir wussten nicht, was wir falschgemacht hatten. Denn unsere Simulationen hatten ergeben, dass wir eine Sekunde bis 1,5 Sekunden schneller sein würden als die Konkurrenz."

Die erste Reaktion: Selbstzweifel. Der langjährige Formel-1-Renningenieur Jock Clear meint: "Wir waren sehr skeptisch und haben den Ingenieuren gesagt: 'Ihr müsst euch verrechnet haben! Wir sind doch nicht zwei Sekunden schneller als alle anderen!'"

Das sorgt für gemischte Gefühle bei Brawn in Brackley. "Die Sache machte die Runde im Werk", sagt Teamchef Brawn. Die Belegschaft habe sich gefragt: "Haben wir uns so massiv vertan? Oder haben wir hier etwas wirklich Besonderes vor uns?"

Brawn hinterfragt sich selbst: Kann das wirklich sein?

Also lässt Brawn seine Ingenieure noch einmal eine Extrarunde drehen und sämtliche Daten überprüfen. Ergebnis laut Clear: "Wir sind immer noch zwei Sekunden schneller!"

Da dämmert der Brawn-Mannschaft, dass eine Sensation bevorsteht. Noch aber hat das Team mit dem Brawn BGP 001 gerade mal einen kurzen Shakedown gefahren und keine echten Tests bestritten. Offen ist vor allem, wie das Auto mit dem Mercedes-Antrieb harmonieren würde, für den es - als Honda-Entwicklung - gar nie ausgelegt war.

Die ersten Testfahrten: Es wird ernst für Brawn

Dann folgt der erste Formel-1-Gruppentest mit Brawn-Beteiligung vom 9. bis 12. März 2009 in Barcelona. Der Brawn-Rennwagen wird mit sechseinhalb absolvierten Renndistanzen nicht nur zum Dauerläufer, sondern auch zum Trendsetter: Rubens Barrichello und Jenson Button beschließen die Probefahrten auf P1 und P2 der Zeitenliste, über acht Zehntel vor Williams-Fahrer Nico Rosberg auf Platz drei.


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Wenn es also noch Zweifel an der Leistungsfähigkeit des BGP 001 gegeben hat, sie sind auf einen Schlag verflogen. Denn auch beim folgenden Gruppentest in Jerez überzeugt das Fahrzeug, wenn auch ohne die Wochen-Bestzeit zu setzen.

Das Brawn-Märchen beginnt

Und so geht es für Brawn nach einer überaus turbulenten Winterpause mit nur einem Drittel der Testtage und Testkilometer von BMW-Sauber, Ferrari, McLaren, Toyota und Williams zum Saisonauftakt 2009 nach Australien. Vor allem aber mit dem sogenannten Doppeldiffusor im Heck des Autos, einem "Schlupfloch" im Technischen Reglement der Formel 1.

Der Rest ist Motorsport-Geschichte: Brawn erzielt beim Australien-Grand-Prix einen Doppelsieg durch Button und Barrichello und gewinnt am Ende einer dramatischen Formel-1-Rennsaison auch beide WM-Titel.

Brawn-Gruppenbild mit Teamführung und Fahrern am Ende der Saison 2009

Brawn-Gruppenbild mit Teamführung und Fahrern am Ende der Saison 2009 Zoom

Diese Erfolgsbilanz ist einmalig, denn Brawn gelingt all dies im einzigen Jahr des Bestehens: Noch 2009 kauft Mercedes den Rennstall auf und führt ihn bis heute als Mercedes-Werksteam weiter, als derzeit erfolgreichstes Team der Turbo-Hybrid-Ära seit 2014.