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"Jetzt wird nach Daten gefahren!": Stolz-Stärke durch virtuelles Reifenmodell?
Ulrich Fritz' Mercedes-Team HRT setzt beim Umgang mit den Reifen auf Hightech aus dem Formelsport: Wie dadurch die Sachsenring-Pole gelang und was die Risiken sind
(Motorsport-Total.com) - Nach Luca Stolz' Sieg auf dem Sachsenring herrschte bei Herausforderer Thomas Preining Rätselraten, wie denn der HRT-Pilot in der Lage sei, die Reifen nach dem Stopp so schnell ins Fenster zu bringen. Und auch die Pole-Runde des Mercedes-AMG-Werksfahrers, der um sechs Zehntel schneller war als seine Markenkollegen, verblüffte die Konkurrenz.
© Haupt Racing Team/smg
HRT-Cockpit von Luca Stolz: Der Pfeil zeigt die vier Quadrate, die die Reifen darstellen Zoom
Als am gleichen Tag eine Reglementklarstellung kam, dass das Erhitzen der Pneus durch Sonneneinstrahlung in der Box nicht erlaubt ist, schien das Rätsel für viele gelöst. Dabei dürfte HRT am Sachsenring die Sonne gar nicht genutzt haben. Stattdessen geben vier Quadrate auf dem Cockpit-Display von Stolz' HRT-Mercedes einen Hinweis auf ein komplexes Reifenanalysesystem.
Eine Geheimwaffe des von Ex-Mercedes-DTM-Leiter Ulrich Fritz geführten Teams? "Es ist nett, wenn der Fahrer ein paar schicke Blinklichter im Cockpit hat, die ihm vielleicht ein bisschen helfen, aber das ist der vierte von fünf Schritten", deutet er im Gespräch mit Motorsport-Total.com an, dass sich dahinter Größeres verbirgt. "Denn das blinkende Licht bringt dir nichts, wenn man die falschen Entscheidungen trifft."
HRT-Teamchef über Stolz-Pole: "Das war der Schlüssel"
Tatsächlich arbeitet HRT seit dem Winter 2021 mit dem französischen Reifenanalyse-Dienstleister FORS zusammen, der auch drei Formel-1-Teams unterstützt, um die Reifen besser zu verstehen. Laut Fritz war das starke Sachsenring-Wochenende, an dem Stolz mit Abstand der beste Mercedes-AMG-Pilot war, eine Folge der Zusammenarbeit.
"Wir haben am Morgen vor dem Qualifying gesagt: Jetzt wird mal strikt nach Daten gefahren!", offenbart Fritz. "Das war der Schlüssel." Denn die Simulation hatte ausgespuckt, dass es der richtige Weg ist, nach der Outlap nur eine Preplap zu fahren, um die Reifen vorzubereiten, ehe der entscheidende Versuch folgt.
"Wir hatten eigentlich erwartet, dass das die anderen auch machen", wundert sich der HRT-Teamchef, warum die beiden anderen Mercedes-AMG-Teams eine zusätzliche Vorbereitungsrunde fuhren - und so den "Peak" des Reifens nicht mehr optimal nutzen konnten.
Prema-Reifenvorteil im Formelsport überzeugte Ulrich Fritz
Aber wie profitiert HRT von der Arbeit mit FORS und warum scheint diese erst jetzt so richtig Früchte zu tragen? "Wir haben vor ungefähr zwei Jahren damit angefangen, intensiv mit virtuellen Reifenmodellen zu arbeiten - und es handelt sich dabei um eine Langzeit-Strategie", erklärt Fritz, der den französischen Dienstleister des Reifen-Spezialisten Frederic Ruat aus seiner Zeit als HWA-Chef in der Formel E und aus den Nachwuchs-Formelserien kannte.
"Das Prema-Team hat in der Formel 2 und in der Formel 3 mehr aus den Reifen herausgeholt", erinnert sich Fritz an die italienische HWA-Konkurrenz, mit der unter anderem Mick Schumacher 2020 Meister wurde. "Dadurch war klar, dass sie irgendwas Besonderes machen. Und als ich dann im GT-Bereich angefangen habe, war ich überrascht, dass kaum Teams so ins Detail gegangen sind."
Wechsel der DTM auf Pirelli-Reifen als Rückschlag
Also spannte HRT mit Prema-Partner FORS zusammen. Was danach folgte, war harte Aufbauarbeit. "Wir wissen, wie wichtig es ist, zuerst wertvolle Daten zu gewinnen, ehe die Ergebnisse kommen. Aber als wir die dann endlich die Daten von den Michelin-Reifen hatten, kam der Wechsel zu Pirelli. Das war ein Rückschlag - und wir haben quasi wieder bei Null begonnen."
Wie so ein virtuelles Reifenmodell entsteht? FORS analysiert zunächst den Pneu im Ruhezustand, dann nutzt man einen speziellen Anhänger auf einer Rennstrecke, in dessen Mitte das Pirelli-Rad positioniert ist. So kann man isoliert die Auswirkungen von vertikalen Kräften und Seitenkräften messen. Auch die Auflagefläche des Reifens wird genau geprüft. Auf Basis dessen wird ein virtuelles Reifenmodell erstellt.
Ob dieses mit der Realität korreliert, wird bei privaten Tests des HRT-Teams mit dem Mercedes-AMG GT3 überprüft. Denn an den DTM-Wochenenden sind nicht alle dafür notwendigen Sensoren erlaubt. Bevor dann die Testarbeit für das konkrete Rennwochenende beginnt, läuft die Software heiß, um Simulationen durchzuführen. "80 Prozent der Arbeit findet vor dem Wochenende statt", bestätigt HRT-Technikchef Laurent Fedacou, der davor beim Formel-E-Team Venturi mit FORS arbeitete.
"Brauchen fünf Längs-Bremsmanöver und zweimal Zickzack"
© Alexander Trienitz
Luca Stolz sorgte auf dem Sachsenring für den ersten HRT-Sieg der Saison Zoom
"Am Wochenende wiederholen wir nur die Simulationen mit den aktuellen Temperaturen", sagt der Franzose. "Wenn wir zuhause eine Simulation bei 25 Grad Streckentemperatur machen, und wir sehen am Wochenende, dass es nur 20 Grad hat, dann können wir den Aufwärmprozess und die Werkzeuge anpassen, um dem Fahrer die richtigen Informationen zu geben."
Das ist auch der Grund, warum bis zum letzten Moment vor dem Qualifying simuliert wird, um möglichst repräsentative Daten zu erhalten. Wie man die Fahrer dann vor der Session brieft? "Zuerst entscheiden wir, wie viele Prep- und Pushlaps wir machen", erklärt Fedacou.
"Dann definieren wir auf Basis der Temperatur draußen, wie wir den Reifen aufwärmen. Wir sagen dem Fahrer: 'Wir brauchen fünf Längs-Bremsmanöver, zweimal Zickzack, pass auf die Balance von links nach rechts auf, denn der Sachsenring hat viel mehr Links- als Rechtskurven."
So funktioniert das System auf dem Cockpit-Display
Und dann wäre da noch das System im Cockpit, das dem Fahrer auf dem Display anzeigt, ob die Reifen im richtigen Temperaturfenster sind. "Die vier Quadrate sind die vier Räder", erklärt Fedacou. Bei der Zahl im Kästchen handelt es sich um eine Prozentangabe von 0 bis 100. Wenn der Reifen noch zu kühl ist, ist das Kästchen blau, ist die Temperatur zu hoch, ist es gelb oder rot.
© Haupt Racing Team
HRT rüstete den Mercedes mit der Live-Datenüberwachung der Reifen nach Zoom
"Das Ziel ist es, dass alle vier Räder bei 100 Prozent sind und das Kästchen grün ist", so der Technikchef. "Dann sind sie im Fenster und der Fahrer kann mit den Pushlaps beginnen."
Dass all das eine Gratwanderung ist, haben die beiden Qualifyings auf dem Sachsenring offenbart. "Im ersten Qualifying hat Luca den Reifen perfekt aufgewärmt - und unsere Vorgaben, wie viel Energie er in den Reifen bringen muss, haben punktgenau gepasst", verweist er auf die Temperatur der Karkasse und der Lauffläche, den Luftdruck und die Fahrzeugbalance. "So ist uns diese Pole gelungen."
Welches Risiko die HRT-Herangehensweise birgt
Beim Sonntags-Qualifying, als Stolz als Dritter 0,179 Sekunden Rückstand auf Mirko Bortolotti hatte, haben hingegen "nicht mehr alle Parameter genau gepasst", gibt er zu. "Luca hatte auf dem Weg aus der Box etwas Pick-up und musste dafür sorgen, dass der Reifen sauber ist. Dadurch waren wir etwas raus aus dem optimalen Fenster."
Überhaupt berge das Ausreizen des Limits durch die Simulation auch Risiken, so Fritz. "Wenn man nur bei einem Parameter danebenliegt, ist man weg. Aber das Schöne ist, dass wir eine systematische, datengetriebene Herangehensweise haben, anstatt uns auf das Bauchgefühl zu verlassen. Es ist wiederholbar. Und wenn man es nicht schafft, dann weiß man zumindest, was schiefgelaufen ist. Das ist besser als wenn der Fahrer zurückkommt und sagt, das Gefühl hat einfach nicht gepasst."
Und das, obwohl das Team laut eigenen Angaben eine Summe im sechsstelligen Bereich in die Arbeit mit FORS investiert hat, um die Reifen zu verstehen. "Dafür nutzen wir bei den Tests nie 15 Reifensätze", vergleich er sein Team mit der Konkurrenz - und sieht bei der systematischen Herangehensweise auch Potenzial, Kosten zu sparen.
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