Titel nach zwei Einschlägen: So dramatisch war die NLS-Entscheidung
Adrenalin Motorsport feiert den siebten NLS-Titel in Folge, nachdem der BMW M240i Racing am Rennwochenende schon zwei Leitplankenkontakte hatte
(Motorsport-Total.com) - Am Ende ist wieder einmal das Panzertape der große Held. Ohne dieses wären Toby Goodman, Sven Markert und Ranko Mijatovic wohl kaum Meister der Nürburgring-Langstrecken-Serie (NLS) geworden. Auf dramatische Weise holten sie beim Finale den siebten Titel in Folge für Adrenalin Motorsport. Manchmal schreibt die Realität die besten Drehbücher.
© VLN
Ranko Mijatovic, Sven Markert und Toby Goodman sind die NLS-Meister 2024 Zoom
Schon die Fahrerkombination ist außergewöhnlich: Ein selbstständiger Karosseriebauer mit eigener Lackiererei aus der Schweiz, der mehr oder weniger zufällig durch gute Leistungen bei Leihkartrennen zum Motorsport gekommen ist, drei Jahre lang bei FK Motorsport versucht hat, Adrenalin Motorsport im VT2 zu schlagen und schließlich nach dem Motto "If you can't beat them, join them" im Team von Matthias Unger gelandet ist.
Das Ganze gepaart mit zwei jüngeren Fahrern, von denen einer nie professionell Kart gefahren ist, sondern über den heutigen Norddeutschen ADAC Börde Tourenwagen Cup (NATC), einen Juniortitel in der STT und die ADAC GT4 Germany auf die Nordschleife kam. Zudem studiert er in den USA und musste die letzten beiden Saisonrennen mit Jetlag bestreiten.
Und ein junger Brite mit einer europäischen Lotus-Meisterschaft im Gepäck in seiner ersten Nordschleifensaison, der in Kindheitstagen beim Zocken an der Playstation noch glaubte, die Nordschleife sei eine Fantasiestrecke.
Doch eines eint das so ungleiche Trio: ein fast identischer Speed. Und der war richtig gut. Nach vier Siegen in vier aufeinanderfolgenden Rennen im April führten sie mit ihrem BMW M240i die Meisterschaft zur Saisonhalbzeit an.
Doch nach dem 24-Stunden-Rennen gingen die Starterzahlen in der M240i-Klasse zurück. Hinzu kam ein Ausfall bei NLS3 (fünfter Lauf am 22. Juni). Für das 6-Stunden-Rennen wechselte das Trio daher in die Klasse V4, doch ein Unfall zertrümmerte quasi alle Meisterschaftsträume. Denn ausgerechnet bei diesem Rennen gab es für einen Sieg 19 statt 15 Punkte.
Highlights NLS6 2024: 56. ADAC Barbarossapreis
Die Highlights vom 56. ADAC Barbarossapreis, dem Saisonfinale der Nürburgring-Langstrecken-Serie (NLS) 2024
Eigentlich schien die Sache damit erledigt. "Wir hatten mehrere Meetings im Jahr und nach dem 6-Stunden-Rennen war der Titel eigentlich kein Thema mehr. Es ging nur noch darum, die Meisterschaft in unserer Klasse zu gewinnen", sagt Goodman gegenüber Motorsport-Total.com.
Doch bekanntlich kam es anders: Der Porsche Cayman von W&S Motorsport mit Joshua Bednarski, Lucas Daugaard und Moritz Oberheim schied bei NLS5 schon bei den Einstellfahrten am Freitag aus. Gleichzeitig verabschiedeten sich Joshua Hislop und Daniel Mertens im Rennen aus dem Titelkampf.
Zwei Unfälle vor dem Start
Die einzige Chance für Adrenalin Motorsport war ein Klassensieg in einer Klasse mit mindestens sieben Startern. Doch fast wäre es schon am Freitag vorbei gewesen, als Mijatovic bei den Einstellfahrten einen, wenn auch leichten, Einschlag erlitt. "Bei nassen Bedingungen bekam ich sofort eine Fehlermeldung: Stabilitätskontrolle ausgefallen, ABS ausgefallen", erklärt der Schweizer gegenüber Motorsport-Total.com.
"Verschiedene Lampen gingen an und aus, wie bei einem Wackelkontakt. Aber das kann bei einem Rennwagen schon mal passieren. Das Auto lief gut, deshalb habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Doch plötzlich blieben die Räder im Bereich Eschbach stehen. Ich schaffte es noch um die Kurve, aber im Brünnchen passierte es wieder."
Ihm blieb nichts anderes übrig, als das Auto auf dem Gras möglichst parallel zur Leitplanke zu stellen, um in einem möglichst spitzen Winkel einzuschlagen und die Energie auf die ganze Seite zu verteilen. Markert: "Unser Chefmechaniker hat uns über unsere teaminterne WhatsApp-Gruppe informiert. Wir konnten es kaum glauben. Es sah zwar nicht so schlimm aus, aber man weiß ja nie, welche versteckten Schäden es gibt."
© VLN
Nach zwei Einschlägen hielt Panzertape den Kotflügel vorne links das ganze Rennen über Zoom
Doch der Schaden erwies sich als reparabel und Mijatovic konnte im morgendlichen Qualifying wieder rausfahren. "Ich fahre also raus und sehe, dass die Lampe für die Stabilitätskontrolle wieder leuchtet. Die ABS-Lampe aber nicht. Also dachte ich, dass alles in Ordnung ist", erinnert er sich.
"Aber dann will ich die Kurve an der Steilstrecke anbremsen. Wegen der kalten Reifen bremste ich etwa 50 Meter früher als normal. In dem Moment, als ich auf die Bremse trat, leuchtete die ABS-Lampe auf und beide Räder blieben einfach stehen. Ich habe dann mit der Stotterbremse weiter verzögert und konnte die Geschwindigkeit so weit reduzieren, dass der Aufprall nicht zu heftig war."
Doch damit war die Stimmung - und sein Selbstvertrauen - am Boden. Er brachte das Auto an die Box, wo die Mechaniker sofort Radlager und Sensoren austauschten. "Das war mental sehr hart für mich", erzählt Mijatovic. "Nicht nur wegen der beiden Ausrutscher, sondern auch, weil das Auto einem kein Vertrauen gibt, wenn es beim Bremsen nicht das tut, was man erwartet. Vor allem, wenn es zweimal hintereinander passiert."
Zwei M240i gleichzeitig repariert
Markert ging erneut auf die Strecke, hatte aber das gleiche Problem. "Ich bin fünf Runden Grand-Prix-Kurs gefahren, habe immer wieder das ABS belastet, bin auch ein bisschen gedriftet", erinnerte sich der 26-Jährige, der seit 2021 für Adrenalin Motorsport fährt, im Gespräch mit Motorsport-Total.com.
"Dann bin ich vorsichtig eine Runde über die Nordschleife gefahren und habe bei jedem Bremsvorgang auf das Display geachtet. Aber es ging gut. In der zweiten Runde habe ich etwas mehr attackiert und dann kam der Fehler wieder. Gleichzeitig schaltete das Getriebe in Neutral."
Nun war bei Adrenalin Motorsport Alarm angesagt. Beim Titelanwärter musste der komplette Kabelbaum getauscht werden. Tatsächlich wurde ein korrodiertes Kabel gefunden. Ob das die Ursache war, ist noch nicht klar. Gleichzeitig musste das Team einen weiteren M240i Racing nach einem Einschlag wieder aufbauen, damit sieben Autos das Rennen aufnahmen und es volle Punkte gab.
Adrenalin Motorsport schaffte es tatsächlich, beide betroffenen Fahrzeuge rennfertig zu machen. Sieben Starter in der Klasse M240i waren damit eingetütet. Mijatovic musste nach dem doppelten Schock wie gewohnt den Start fahren, da er später in einen GT4-Cayman wechseln würde.
"In der Einführungsrunde habe ich die Bremse getestet, da war alles in Ordnung. Beim Start konnte ich gleich ein paar Plätze gutmachen. Aber dann habe ich gemerkt, dass das Auto stark untersteuert, in Linkskurven gab es auch Vibrationen. In Rechtskurven war alles in Ordnung", berichtet er.
Er fuhr nach zwei Runden an die Box, wo auf Markert gewechselt wurde. Auch die Räder wurden getauscht. Wie sich herausstellte, hatte Mijatovic in der Einführungsrunde offenbar viel "Pick-up" aufgesammelt, womit es ein Fehlalarm war. Da alle Fahrzeuge der Klasse laut Reglement insgesamt acht Minuten des Rennens an der Box verbringen müssen, war der frühe Stopp nicht weiter tragisch.
Markert hat Verständnis: "In so einer Situation kann man schon mal paranoid werden. Auch ich habe Geräusche im Auto wahrgenommen, die ich vorher noch nie gehört habe." Markert fuhr seinen Stint zu Ende und übergab an Goodman. In der Zwischenzeit wechselte Mijatovic in den Porsche Cayman, der ihm mehr Vertrauen entgegenbrachte.
W&S-Ausfall stellt alles auf den Kopf
Und dann geschah das Unglaubliche: Der W&S-Porsche blieb mit einem defekten Benzinpumpenrelais liegen. Mit einem Schlag war das gesamte Meisterschaftsbild auf den Kopf gestellt.
Mijatovic erreichte die Stelle hinter dem Karussell, wo der Cayman von Bednarski/Daugaard/Oberheim ausgefallen war, zuerst: "Mein erster Gedanke war: 'Nein, so will ich nicht gewinnen.' Es tat mir sehr leid, als ich sie dort stehen sah. Das hätte auch uns passieren können. Damit war auch klar, dass wir ab jetzt den Druck haben."
Goodman lag einige Kilometer dahinter und realisierte es zunächst gar nicht: "Mein Ingenieur rief mich an [auf der Nordschleife wird wegen der Topografie Handyfunk verwendet] und ich wollte eigentlich nur wissen, ob ich auf das andere Auto vor uns aufhole. Aber dann hieß es, ich solle kein Risiko mehr eingehen, denn der Porsche sei raus."
© VLN
Der W&S-Cayman von Joshua Bednarski, Lucas Daugaard, Moritz Oberheim schied wegen eines Pfennigartikels aus Zoom
"Ich konnte es nicht glauben bat ihn, den Funkspruch zu wiederholen. Er sagte: 'Der Porsche ist raus, kein Risiko mehr.' Ich dachte erst, er ist vielleicht so weit weg, dass wir keine Chance mehr haben." Im Englischen kann man "he is out" theoretisch auch so interpretieren, dass sich jemand an der Spitze weit abgesetzt hat, auch wenn das eher mit "check out" bezeichnet wird.
"Und dann habe ich ihn plötzlich im Pflanzgarten gesehen, wie er abgeschleppt wurde. Da habe ich erst begriffen, was er meinte. Mir war sofort klar, dass wir ab jetzt alles zu verlieren hatten. Aber es waren noch 90 Minuten zu fahren. Es gab mehrere Unfälle mit Trümmerteilen und immer wieder Code 60. Da musste ich mir das erst einmal aus dem Kopf schlagen.
Das taten Markert und Mijatovic, der inzwischen aus dem Cayman ausgestiegen war. "Jetzt war natürlich der Druck da, das Ding nach Hause zu bringen. Das war eigentlich fast noch schlimmer für uns", so Mijatovic. "Die Minuten kamen mir wie Stunden vor. Als Toby dann auf die letzte Runde ging, hatte ich schon Angst, dass das ABS im dümmsten Moment wieder ausfällt."
Emotionen nach der Zieldurchfahrt
Doch es hielt und Goodman überquerte die Ziellinie. "Da sind alle Emotionen explodiert", sagt Goodman über den Moment, in dem er als erster britischer NLS-Champion feststand. "Man hat so lange darauf hingearbeitet. Das ganze Jahr über denkt man darüber nach, wie es sich anfühlen mag - wenn man mit dem Hund spazieren geht, wenn man Sport treibt, wenn man im Bett liegt. Aber wenn es dann passiert, öffnen sich alle Schleusen."
"In den ersten zwei Stunden nach dem Rennen fühlten wir uns wie Superstars, weil alle Interviews und Fotos von uns wollten. Da haben wir erst realisiert, was wir erreicht haben. Es ist schwer zu beschreiben. Eigentlich wollte ich in diesem Jahr nur Erfahrungen sammeln und vielleicht einmal die Klasse gewinnen. Jetzt Champion zu sein, lässt sich kaum in Worte fassen."
"Es ist einfach ein Traum, der in Erfüllung geht", ergänzt Markert. "Ich kann es kaum glauben. Ich bin sehr stolz auf uns alle. Bei meinen ersten NLS-Rennen habe ich noch von Pokalen geträumt. Dann sind die Ansprüche immer höher geworden. Ich bin allen sehr dankbar, dass ich das erleben darf. Das kann mir jetzt keiner mehr nehmen."
© VLN
Die Startnummer 1 für die Saison 2025 geht wieder an Adrenalin Motorsport Zoom
Und auch Mijatovic gibt zu: "So eine Achterbahn der Gefühle habe ich noch nie erlebt. Auf der einen Seite hatten wir ein katastrophales Wochenende. Andererseits ist es einfach schön, wie es ausgegangen ist. Wir haben gesehen: Man darf nie aufgeben, erst am Ende wird abgerechnet."
Und dann ist da noch der siebte Titel in Folge für Adrenalin Motorsport. Die unglaubliche Serie, die 2018 begann, geht also weiter - auch dank der heldenhaften Reparatur von zwei Fahrzeugen zwischen Zeittraining und Rennen. Der zweite Held: besagtes Panzertape.
Neueste Kommentare
Erstellen Sie jetzt den ersten Kommentar