Brawn: "Jetzt ernten wir die Früchte"

Wie Mercedes in den vergangenen 18 Monaten die Trendwende schaffte, ob man sich Siege zutraut und wieso es heute so schwer ist, nach vorne zu kommen

(Motorsport-Total.com) - Mercedes hätte sich den Weg zum WM-Titel wohl leichter vorgestellt. Die Stuttgarter übernahmen 2010 das Weltmeister-Team Brawn - bei McLaren war man fortan nur noch Motorenpartner. In den zwei Jahren mit dem Team aus Brackley erzielte man bisher aber bloß zwei Podestplätze. Zu wenig für die hohen Ansprüche der selbsternannten Weltauswahl. 2012 dürfte man die Abwärtsbewegung aber gestoppt haben: Nach guten Tests geht Mercedes als Geheimtipp in die Saison und dürfte sich auf dem Vormarsch befinden.

Titel-Bild zur News: Michael Schumacher

Geht es bei Mercedes diese Saison endlich aufwärts?

Dennoch will Motorsportchef Norbert Haug den Eindruck nicht gelten lassen, dass das Team unter Mercedes-Führung nicht imstande ist, ganz vorne mitzufahren, während das damalige Privatteam Brawn nach dem Honda-Ausstieg 2009 Weltmeister wurde. "Sie kamen damals nicht aus dem Nichts", stellt der Schwabe klar. "Man muss genau wissen, was dort passiert ist. Das Team arbeitete damals über einen langen Zeitraum sehr hart und sie machten mit dem Doppel-Diffusor einen großen Schritt - und so weiter und so fort."

Doch die Zeiten in der Formel 1 haben sich geändert. Während Brawn damals davon profitierte, dass durch die Reglement-Revolution 2009 alle mit einem weißen Blatt Papier starten und das Team unter Honda-Führung die Saison davor opferte, um mit viel Geld den Sprung an die Spitze vorzubereiten, ist das Reglement inzwischen seit damals stabil. "Derzeit ist es in der Formel 1 nicht möglich, drei Plätze gut zu machen. Man muss aber ruhig und präzise arbeiten und einen Schritt nach dem anderen machen. Das ist es, was wir tun", gibt sich Haug zuversichtlich, dass das Team früher oder später nach vorne kommt.

Brawn erwartet "aufregende Zeit"

Zumal die Truppe nach vielen turbulenten Jahren - seit 2008 gab es drei verschiedene Eigentümer - nun endlich Stabilität erlang hat. "Einige dieser Änderungen wurden uns aufgezwungen - sie waren nicht geplant", spielt Teamchef und Ex-Besitzer Ross Brawn auf das plötzliche und unerwartete Honda-Aus an. Damals schritt er als Retter ein. "Als Brawn-Team waren wir in einer sehr schwierigen Situation, alles aufrecht zu erhalten - aus vielerlei Gründen", erinnert sich Brawn.

"Das, was wir in den vergangenen zwölf bis 18 Monaten aufgebaut haben, beginnt jetzt Früchte zu tragen." Ross Brawn

Doch dann warf Mercedes Brawn den Rettungsanker zu - das Budget für die kommenden Jahre war damit gesichert. Der ehemalige Ferrari-Technikchef spürt, dass das Team jetzt endlich vor dem Durchbruch steht: "Wir befinden uns in einer aufregenden Phase - vor allem angesichts der Geschichte unseres Teams. Wir wollen Mercedes in der Formel 1 repräsentieren. Was mich angeht, ist alles auf Schiene. Das, was wir in den vergangenen zwölf bis 18 Monaten aufgebaut haben, beginnt jetzt Früchte zu tragen. Wir stehen vor einer sehr aufregenden Zeit."

Die Vorteile von fünf Technikchefs

Die Weichen stellte man im Vorjahr - einer Saison, in dem Mercedes nach einem harzigen Beginn zwar Führungskilometer sammelte, aber es schließlich nie auf das Podest schaffte. Mit Teamchef Brawn, Technikchef Bob Bell, Technologiedirektor Geoff Willis, Chefingenieur Aldo Costa und Designer Loic Bigois arbeiten nun fünf Leute für Mercedes, die bereits bei Formel-1-Teams den Posten des Technikchefs bekleideten - so viele wie bei keinem anderen Team.


Fotos: Fahrer der Saison 2012


Doch ist die Truppe bereits eingespielt? "Bei Bell war es sehr einfach, denn als er kam, hatten wir in Wahrheit keinen Technikchef, ich wollte damals diese Rolle abdecken", gibt Brawn Einblicke. "Wir haben John Owen als Chefdesigner, der sehr talentiert ist, aber etwas Unterstützung benötigte. Aldo kümmert sich also um die Ingenieurs-Seite, Geoff um die Aerodynamik. Jetzt können sich alle besser auf ihre Kernbereiche konzentrieren, als zu der Zeit, als sie Technikchefs waren."

Doch der Ausbau der Technikertruppe hat auch andere Gründe, wie der Teamchef verrät: "In den kommenden Jahren kommen einige Schlüsselprojekte auf uns zu. 2014 gibt es ein neues Reglement mit einem komplett neuen Motor. Wir müssen einige Ressourcen dafür bereitstellen. Durch unsere neue Struktur können sich einige unserer Ingenieure gewissen Projekten widmen."

Rosberg: Neue Leute haben sich ausgezahlt

Auch Pilot Rosberg ist davon überzeugt, dass das Vorurteil, zu viele Köche würden den Brei verderben, in diesem Fall nicht zutrifft und zeigt sich von der neuen Struktur angetan: "Das hat uns definitiv einen Schritt vorwärts gebracht, dass wir in so kurzer Zeit so viele neue Leute engagiert haben. Das Schöne ist, wie schnell es ihnen in der Fabrik gelungen ist, einen großen Einfluss zu bekommen - in Bezug auf die Arbeitsweise des Teams und auf das neue Auto."

"Das Schöne ist, wie schnell es den neuen Leuten in der Fabrik gelungen ist, einen großen Einfluss zu bekommen." Nico Rosberg

Laut dem Wiesbadener haben sich die Auswirkungen längst bemerkbar gemacht: "Es ist ganz klar, dass wir schon jetzt ein stärkeres Team sind. Es geht definitiv in die richtige Richtung. Ich spreche sehr viel mit ihnen und habe einen guten Draht. Es handelt sich ganz klar um starke Neuzugänge."

Erfolgreicher Testwinter

Im Vergleich zum Vorjahr, als das Auto bei den Tests oft lange an der Box stand und man mit der Zuverlässigkeit Probleme hatte, lief 2012 alles glatt. "Wir haben in den vergangenen zwölf Monaten große Fortschritte gemacht und sind jetzt viel stärker als damals", erklärt Brawn. "Ich habe mich mit unserer Situation vor zwölf Monaten überhaupt nicht wohlgefühlt. Wir haben die Ziele nicht erreicht, die wir uns im Winter vorgenommen hatten. Wir hatten ein Auto, das einige Probleme machte."

Ein Beweis, dass das Team seiner Sache inzwischen sicher ist, beweist die ungewöhnliche Strategie: Im Gegensatz zu allen anderen Topteams griff man erst beim zweiten von drei Tests mit dem neuen F1 W03 ein. "Wir hatten einen guten Winter", bestätigt Rosberg. "Das Auto war zuverlässig und wir konnten viele Runden fahren. Wir testeten viele Dinge und haben dabei viel gelernt über das neue Reglement und die neuen Reifen. Wir sammelten da einige wertvolle Erfahrungen. Ganz allgemein ist die Basis unseres Autos im Vergleich zum Vorjahr ein Schritt vorwärts. Alles läuft also nach Plan und wir konzentrieren uns daher derzeit auf die Performance."

Renntempo steht im Vordergrund


Fotos: Großer Preis von Australien


Der F1 W03 erwies sich vor allem bei den Longruns als stark. Doch wie gut ist der Bolide im Qualifying-Trim - im Vorjahr zumindest Michael Schumachers Achillesferse. Der Rekord-Weltmeister rät davon ab, die Tests als Basis für konkrete Prognosen zu verwenden. "Diese Reifen sind in ihrem Verhalten sehr speziell, und ich bin nicht sicher, ob uns der Winter sagen kann, was der Sommer bringen wird", meint er.

"Unsere Longruns geben uns Zuversicht." Michael Schumacher

Sein Vorschlag: "Das müssen wir unter echten Rennbedingungen herausfinden - dann werden wir sehen, wie gut wir sind. Unsere Longruns geben uns Zuversicht, und das ist schön, aber das Feld liegt eng beisammen." Ganz allgemein ist er der Meinung, dass das Qualifying ohnehin eine untergeordnete Rolle spielt: "Durch unsere heutigen Überhol-Möglichkeiten ist es viel wichtiger, dass ein Auto unter Rennbedingungen konstant und schnell ist, als auf einer einzelnen Runde." Auch Rosberg schlägt in die gleiche Kerbe: "Im Vorjahr hat sich der Trend etwas verschoben, und wir haben daraus gelernt. Daher sollten wir jetzt im Rennen besser sein als im Qualifying."

Mercedes ein Siegkandidat?

Doch wo stehen die Silberpfeile wirklich? Ist man beim Saisonstart wie im Vorjahr ein regelmäßiger Punktesammler oder kann man gar schon um Siege mitfahren? Sieger gehandelt. Habt ihr auch dieses Gefühl? "Ich glaube, dass das etwas zu optimistisch wäre", winkt Brawn ab. "Wir werden erst nach den ersten vier Rennen wissen, wer wo liegt. Melbourne kann sehr ungewöhnlich sein. Vor allem jetzt, wo das Rennen am Abend stattfindet und der Reifendruck und die -Temperaturen für ein paar Probleme sorgen könnten."

Sollte Mercedes in Melbourne tatsächlich die Sensation schaffen und den Grand Prix gewinnen, so würde der Teamchef dies nicht als repräsentatives Ergebnis heranziehen: "Es gibt hier sehr häufig Safety-Car-Phasen. Jeder versucht zu verstehen, was die Reifen machen. Daher gibt es ein paar ungewöhnliche Faktoren, die sich auswirken könnten und einen Unterschied machen könnten. Alle kurzfristigen Eindrücke lassen sich daher wohl auf ungewöhnliche Umstände zurückführen."

Auch Haug warnt vor voreiligen Schlüssen: "Es ist auf jeden Fall besser, wenn man nach dem Rennen und nicht vor dem Rennen positiv beurteilt wird." Der Mercedes-Motorsportchef sieht das Formel-1-Team ohnehin aus langfristiges Projekt: "Das ist ein Aufbauprozess, der bereits zwei Jahre andauert, und wir wissen, dass er länger dauern wird - das ist klar. Klar, wenn wir einen größeren Schritt machen sollten, dann würden wir uns freuen. Aber es ist nicht realistisch, dass wir von Platz vier auf Platz eins nach vorne kommen."

Brawn bedankt sich für Geduld von Mercedes

Rosberg will sich derzeit nicht an konkreten Ergebnissen orientieren, sondern legt wert darauf, dass die allgemeine Richtung des Teams stimmt: "Die Erwartungshaltung ist, dass wir uns im Vergleich zum Vorjahr verbessern - das ist das Wichtigste. Wir arbeiten an diesem Projekt, an die Spitze zu kommen und Rennen und Weltmeisterschaften zu gewinnen. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der Schritt für Schritt voranschreitet. Da müssen wir sicherstellen, dass wir uns vorwärts bewegen und der Spitze näherkommen."

"Mercedes versteht, dass es ein Aufbauprozess ist." Ross Brawn

Abschließend bedankt sich Teamchef Brawn für die Geduld, die ihm die Konzernführung entgegenbringt. "Eines der großartigen Dinge bei Mercedes ist die Erfahrung und das Wissen des Vorstands. Sie verstehen, dass es ein Aufbauprozess ist, der natürlich von Norbert unterstützt wird. Sie wissen, was es braucht, und dass man es nicht über Nacht schafft. Man muss alles aufbauen - wie in der Automobil-Industrie. Man kann ein Auto, das so wichtig wie ein Mercedes ist, nicht über Nacht erfinden - man muss es bauen. Sie haben uns enorm unterstützt, um das Team aufzubauen, das wir benötigen."