Die Saison 1994 bietet einen der spannendsten Titelkämpfe der Geschichte mit kontroversem Ausgang, "Schummel-Schumi" und zwei Tragödien
Nach einer denkwürdigen Saison 1994 ist es geschafft: Michael Schumacher krönt sich zum ersten deutschen Formel-1-Weltmeister. Als der Kerpener mit einem schwarzen Cowboy-Hut auf dem Kopf, seinem bis zum Bauchnabel aufgeknöpften weißen Hemd, blauen Jeans und hellbraunen Cowboy-Stiefeln den Titel bis 4:55 Uhr am nächsten Morgen feiert, liegen hinter ihm neben vielen Erfolgen auch zwei der größten Kontroversen der jüngeren Motorsport-Geschichte und zwei Tragödien.
Davon ahnt Schumacher nichts, als der Tabakkonzern Mild Seven vor dem Saisonstart sein Sponsoring vorstellt. An der Seite des Deutschen ist Flavio Briatore, der als Teamchef die Geschicke bei Benetton leitet und außerdem auf JJ Lehto, doch der Finne wird zu Saisonbeginn aufgrund einer Nackenverletzung bei den Testfahrten durch Jos Verstappen ersetzt.
Die Formel 1 erlebt eine der großen technischen Revolutionen - oder besser gesagt eine technische Renaissance. Die aktive Radaufhängung, ABS, die Traktionsskontrolle und die Antischlupfregelung werden verboten, um Kosten zu senken und die Fahrer wieder mehr zu fordern. Ab dem Deutschland-Grand-Prix will die FIA auch den so genannten "Ground Effect" eindämmen und schreibt eine Holzplanke unter dem Unterboden vor...
Schumachers vermeintlich größter Konkurrent ist Ayrton Senna. Nach seinem Wechsel zu Williams glauben alle, dass gegen den besten Piloten im besten Auto kein Kraut gewachsen sein würde. Der Saisonauftakt in Brasilien untermauert diese These: Nach einer Pole-Position für den dreifachen Weltmeister ist Schumacher im Rennen jedoch besser unterwegs, schnappt dem Lokalmatadoren beim Boxenstopp die Führung weg und treibt ihn bei der anschließenden Aufholjagd in einen Fehler. Eine Wachablösung? Das glaubt zunächst niemand.
Nach einem weiteren Sieg im japanischen Aida avanciert Schumacher zum damals 25-jährigen Shootingstar der Szene. Die ganze Motorsport-Welt wartet darauf, dass das Imperium Senna zurückschlägt. Der Superstar wittert am Benetton des Deutschen einige illegale Hilfsmittel und lauert verbissen auf eine Revanche.
Das dritte Rennwochenende in Imola beginnt jedoch mit einem schweren Schlag und wird als schwarzes von San Marino in die Geschichte eingehen: Nachdem Rubens Barrichello bei einem heftigen Crash im Freien Training dem Tod nur knapp von der Schippe gesprungen ist, verunglückt im Qualifying der Österreicher Roland Ratzenberger. Es ist der erste Todesfall seit acht Jahren, seitdem Elio de Angelis 1986 bei Testfahrten ums Leben kam.
Die Fahrer wollen sich mehr um die Sicherheit bemühen und gründen die Fahrergewerkschaft GPDA, deren Vorsitz Senna übernehmen will. Doch soweit kommt es nie...
In der siebten Runde des Rennens in Imola verliert die Rennlegende aus bis heute nicht abschließend geklärten Gründen die Kontrolle über den Williams und schlägt mit 218 Kilometern pro Stunde in die Betonmauer der Tamburello-Kurve ein. Senna wird sofort mit dem Helikopter ins Krankenhaus transportiert, doch dort wird am Abend nur noch sein Tod festgestellt.
Schumacher gewinnt, doch er feiert nicht. Die Tragödie um das einstige Idol und den Rivalen überschattet alles. Sogar Monate später, als sich Schumacher nach seinem Titelgewinn vor Senna verneigt: "Wir kamen nach Imola und was dort passiert ist... Wenn ich vorher von einem Alptraum gesprochen habe, dann war das etwas ganz anderes. Für mich war immer klar, dass ich den Titel nicht holen würde, sondern Ayrton. Aber er war nicht mehr da in den letzten Rennen der Saison. Ich möchte ihm diesen Titel widmen."
Es ist Schumacher, der in Monaco den Vorsitz der GPDA übernimmt. Wieder wird mit Sauber-Pilot Karl Wendlinger ein Kollege schwer verletzt, doch der Zirkus setzt seine Vorstellungen fort: Schumacher profitiert im Fürstentum von einer Kollision Damon Hills mit Mika Häkkinen und siegt zum vierten Mal in Serie. Der Weg zum Titel scheint geebnet.
Erst in Spanien tritt der große Kontrahent auf den Plan: Damon Hill. Der Brite profitiert in Barcelona von Schumachers technischen Problemen. Erstaunlicherweise schafft der es trotz defektem Getriebe und feststeckendem fünften Gang, irgendwie Boxenstopps zu absolvieren sowie Platz zwei ins Ziel zu retten.
Schumacher baut seinen Vorsprung mit Siegen in Kanada und Frankreich aus. Nach sieben Rennen hat er 66 von 70 möglichen Punkten auf dem Konto. Es scheint, als könnten sich er und Benetton nur noch selbst ein Bein stellen.
Es passiert tatsächlich: In der Einführungsrunde zum Großbritannien-Grand-Prix in Silverstone überholt Schumacher Pole-Mann Hill und kassiert dafür eine fünfsekündige Strafe. Briatore will das nicht akzeptieren, woraufhin die Rennleitung die Sanktion in eine Stop-and-Go-Strafe umwandelt. Er teilt seinem Piloten mit, dass er die Buße weiter ignorieren soll, um später dagegen vorzugehen. Es gibt die Schwarze Flagge und damit die Disqualifikation. Hill siegt, doch das ist fast Randnotiz, schließlich zieht Benetton in der Folge vor das Sportgericht. Schumacher bleiben weitere Repressalien erspart, doch er fährt nur auf Bewährung weiter.
Sein Glück hat er genau wie die WM-Punkte auf der Insel gelassen: Als die Formel 1 nach Deutschland kommt, ist das ganze Land der "Schumania" verfallen. Jeder Bube fährt Kart, auf vielen Autos klebt das Helmdesign des großen Idols als Sticker, jede Talkshow will den neuen Nationalhelden in ein knallbuntes Sakko stecken und vor laufender Kamera verhören. Die Firma Dekra scheint populärer als Coca Cola und Mercedes zusammen.
Auf der damaligen Highspeed-Bahn Hockenheim versagt der Ford-Motor im Benetton nach 20 Runden. Gerhard Berger im Ferrari siegt und Hill verpasst es, Boden gutzumachen.
Das Blatt scheint sich nach einem weiteren Triumph in Ungarn erst im belgischen Spa-Francorchamps zu wenden: Statt "Schumi, Fritten, Bier - darum sind wir hier" gibt es im Ardennen-Theater "Kabale und Liebe", wobei ersteres eindeutig dominiert. In einer wegen der schweren Unfälle der Saison per Schikane entschärften Eau Rouge fährt Schumacher im Regen auf Startplatz zwei hinter Sensationsmann Barrichello. Das Rennen im Trockenen gewinnt der Kerpener, doch am Abend kommt die Ernüchterung...
Die Rennleitung disqualifiziert Schumacher, weil der Unterboden seines Benetton nicht den neuen Vorschriften entspricht. Die Holzplanke ist völlig heruntergefahren, um weit mehr mehr als die erlaubten zehn Prozent. Weil die Bewährung aus Silverstone weiter aktuell ist, kennt die FIA keine Gnade. Es setzt zwei Rennen Sperre und der "Schummel-Schumi" ist geboren.
Hill nutzt die Gunst der Stunde: Er profitiert in Belgien, gewinnt dann in Italien und Portugal. Plötzlich ist der Williams-Star auf einen Punkt herangerückt an Schumacher und die WM hat bei dessen Rückkehr beim Europa-Grand-Prix eine völlig neue Klangfarbe.
In Jerez feiert Schumacher einen Comeback-Erfolg, weil Hill beim Boxenstopp patzt und zu wenig Sprit mitnimmt. Doch der Weltmeister-Sohn kontert im japanischen Suzuka mit kluger Strategie und dreht die Reihenfolge um. Vor dem Saisonfinale in Adelaide trennt die Rivalen nur ein einziger WM-Zähler. Es steht 92:91.
Klar ist: Wer den letzten Grand Prix gewinnt, der ist Champion. In den Straßen der australischen Metropole überrascht im Qualifying der gut genährte IndyCar-Rückkehrer Nigel Mansell mit der Pole-Position, doch die Welt starrt auf das Duell Schumacher versus Hill. Zu nachtschlafender Zeit ist ganz Deutschland auf den Beinen, um den ersten Champion der Geschichte zu feiern.
Beide Stars demonstrieren nach dem Rennstart, warum sie der Saison 1994 ihren Stempel aufgedrückt haben: Sie sind klar schneller als der Rest des Feldes und fahren den WM-Titel 36 Runden lang unter sich aus, ehe Schumacher in der East Terrace-Kurve einen Fahrfehler begeht. Der Benetton schlägt seitlich in die Mauer ein, doch es ist unklar, ob der Wagen auch beschädigt ist.
Der zu diesem Zeitpunkt klar schnellere Hill fackelt nicht lange, setzt zum Überholen an und bremst sich daneben. Schumacher lässt es in dem Wissen, dass ein Ausscheiden beider Autos seinen Triumph bedeutet, auf eine Kollision ankommen. Er schlägt die Tür zu, seinen eigenen Boliden hebelt es aus und er scheidet sofort aus. Hill fährt zunächst weiter, muss kurz darauf aber mit einem gebrochenen Querlenker an der Box aufgeben.
Schumacher starrt hinter einem Gitterzaun stehendend auf die Rennstrecke und zählt. Mansell fährt "einmal, zweimal und schließlich ein drittes Mal" an dieser Stelle vorbei. Er wartet auf Hill, aber er kommt nicht. "Das sind die längsten drei Runden meines Lebens", sagt Schumacher danach. Es wächst beim ausgefallenen Kerpener nur langsam die Gewissheit, dass er gerade Formel-1-Weltmeister geworden ist. Danach kennt der Jubel keine Grenzen.
Hill weiß um die Umstände des Manövers, erweist sich aber als großartiger Sportsmann: Am Montagmorgen geht er zu Schuamcher an den Frühstückstisch und gratuliert. "Das ist der schönste Moment für mich gewesen", so Schumacher später.
Die Saison 1994 bietet einen der spannendsten Titelkämpfe der Geschichte mit kontroversem Ausgang, "Schummel-Schumi" und zwei Tragödien