Gigantomanie trifft Retorte: Warum in Russland ein wenig Monaco wartet und die Piloten Langeweile befürchten
Wladimir Putins Gigantomanie begrüßt die Formel 1: Was am Fernsehbildschirm den Charme eines Industriegebiets versprüht, zählt architektonisch zu den spektakulärsten Stecken im Rennkalender. Trotzdem hat im russischen Sotschi möglicherweise nicht jeder Pilot Spaß, sollte das drohende Einstopp-Rennen zum Langeweiler verkommen.
Zumindest abseits des Sportlichen ist Sotschi ein Garant für gute Laune: Die 343.000-Seelen-Stadt am Schwarzen Meer grüßt mit mediterranem Flair und Luxus vor der Kulisse des Kaukasus. An der "Russischen Rivera" erinnert nichts an Taiga, Sibirien oder Moskau.
Auch Daniel Ricciardo (Red Bull) staunte nicht schlecht, als er mit der Formel 1 zur Russland-Premiere vor zwei Jahren erstmals anreiste: "Als ich Strand mit blitze blauem Meer gesehen habe, war das nicht das, das ich mir vorgestellt habe", meint der Australier.
Auf den Tisch kommt in Sotschi aufgrund der Lage und des Klimas eher Fisch als Borschtsch oder Soljanka. Die Trinkgewohnheiten sind ähnlich, wie Kevin Magnussen (Renault) offenbar zu Ohren gekommen ist: "Mit russischer Küche kenne ich mich nicht aus. Von einem gewissen Getränk habe ich schon gehört..."
Auf dem modernen Kurs rast die Königsklasse rast zwischen Sportstätten der Olympischen Winterspiele 2014 hindurch. "Beeindruckend" finden das zahlreiche Piloten, am Layout scheiden sich die Geister. "Viele Kurven sehen ähnlich aus, aber sie sind schwieriger als es den Anschein hat", fasst Daniil Kwjat (Red Bull) zusammen.
Die Tilke-Bahn beinhaltet zwölf Rechts- und sechs Linkskurven. Sie zählt mit einer Länge von 5,854 Kilometern zu den längsten Strecken im Kalender. Die Durchschnittsgeschwindigkeit beträgt rund 215 km/h, womit in Sachen Tempo ein Wert erreicht wird, der für einen vorderen Platz in den Bestenlisten gut ist.
Die spektakulärste Passage ist ein Unikum und hört auf den Namen Kurve 3. Die 180-Grad-Linkskurve in Form eines Hufeisens wird mit 260 km/h durchfahren und stellt im Rennen die Nackenmuskulatur der Piloten mit hohen G-Kräften vor eine Belastungsprobe. "Ich liebe sie", bekennt Fernando Alonso (McLaren).
Trotz des hohen Tempos schrauben die Teams viel Abtrieb auf das Auto, was vielen langsamen 90-Grad-Kurven geschuldet ist. Das Setup ähnelt somit dem in Singapur. Bob Bell (Renault-Technikchef) erklärt: "Im Grunde genommen handelt es sich um einen Stadtkurs, der nicht maximalen Abtrieb erfordert."
Pirelli agierte bei der Auswahl der Reifenmischungen erstaunlich konservativ: Supersoft, Soft und Medium stehen 2016 zur Verfügung. Kluge Vorahnung? "Es ist schwierig, die Reifen in Sotschi auf Temperatur zu bringen. Aber wenn eine Strecke altert, wird auch der Asphalt etwas rauer", sagt Kimi Räikkönen (Ferrari).
Das hieße: mehr Verschleiß. Und Bob Bell ("Wahrscheinlich wird es ein Einstopp-Rennen") hätte Unrecht. Auch Nico Rosberg (Mercedes) müsste sich am Kopf kratzen: "Die Strategie macht es weniger spannend, was das Überholen angeht." Sergio Perez (Force India) könnte mitmachen: "Der Reifenverschleiß ist sehr niedrig."
Jenson Button (McLaren) ist anderer Meinung und erinnert daran, dass bislang immer im Herbst gefahren wurde, nicht im Frühjahr: "Mit der Jahreszeit - die Asphalttemperatur ist 20 Grad Celsius höher - wird es vielleicht nicht möglich sein, mit einem Stopp durchzufahren." Klar ist: Problematisch ist wenn die Hinter-, nicht die Vorderachse.
Neben Monza, Mexiko-Stadt und Montreal zählt Sotschi außerdem zu den Spritfressern unter den Strecken. Nico Hülkenberg (Force India) weiß außerdem: "Die harten Verzögerungsmanöver belasten die Bremsen sehr stark." Damit hatte in der Vergangenheit auch schon Klassenprimus Mercedes seine Probleme.
Lewis Hamilton kehrt in Russland auf lieb gewonnenes Terrain zurück: In Sotschi gewann er beide bislang ausgetragenen Rennen, bei denen Mercedes jeweils den Gewinn der Konstrukteurs-WM in trockene Tücher packte. Kein Wunder, dass er behauptet: "Die Strecke scheint mir ziemlich gut zu liegen."
Übrigens: Einer freut sich auf jeden Fall auf den Grand Prix, ob langweilig oder nicht. "Was noch viel cooler ist", reibt sich Lokalmatador Kwjat die Hände, "eine Tribüne ist nach mir benannt. Und dann will ich hier noch in die Sauna, das ist ein Klassiker."