Ein Legastheniker wird zum überlegenen Weltmeister, doch den Tod zweier Freunde vermag das nicht aufzuwiegen
Dreimaliger Weltmeister, Vorkämpfer für Sicherheit auf der Rennstrecke und ein Gentleman mit karierter Schottenmütze: So kennen die Formel-1-Fans den gereiften Jackie Stewart, der als heute 83-Jähriger nichts von seiner Frechheit, seinem Witz und seinem Charme verloren hat. Das Licht der Welt erblickte er im schottischen Dörfchen Milton rund 20 Kilometer westlich von Glasgow - als Sohn eines Autohändlers und Hobby-Rennfahrers, was sich in jungen Jahren noch nicht auf seine Freizeitgestaltung auswirkt.
Mit bis 1980 unerkannter Legasthenie kämpft sich Stewart mehr schlecht als recht durch das britische Schulsystem, muss die Schule aber im Alter von 16 Jahren wegen schlechter Noten abbrechen und beginnt, in der Werkstatt seines Vaters zu arbeiten.
Erfolg hat er in anderen Lebensbereichen: Er gewinnt mit nur 13 Jahren die nationale Meisterschaft und internationale Turniere im Skeetschießen. An einer Olympia-Qualifikation im Tontaubenschießen scheitert er 1960 nur knapp.
Anschließend kommt Stewart erstmals mit Motorsport in Berührung, als ein Kunde seines Vaters ihm Testfahrten in diversen Sportwagen anbietet. Der Gönner staunt nicht schlecht und verschafft ihm Teilnahmen an Meisterschaften: Auf Amateur-Niveau ist Stewart mit 22 Jahren schnell eine Größe und bestimmt die Szene in legendären Autos wie dem Aston Martin DB4GT oder dem Jaguar E-Type. Da klopft ein gewisser Ken Tyrrell (links im Bild) an...
Der gerade zurückgetretene Rennfahrer baut für Cooper ein Formel-Junior-Team auf und will das Talent unbedingt für sich gewinnen. Nach einem Formel-3-Test in Goodwood ist die Sache geritzt - auch, weil ein gewisser Bruce McLaren im identischen Auto gegen den völlig unbekannten Stewart alt aussieht. Stewart erhält den Drive und fährt die Konkurrenz 1964 in Grund und Boden. Seine Überlegenheit ist so eklatant, dass Cooper ihm binnen weniger Tage eine Formel-1-Chance anbietet. Er lehnt jedoch ab und zieht es vor, unter Tyrrells Fittichen Erfahrung zu sammeln.
Stewart lässt eine weitere Chance, die sich bei Lotus bietet, zugunsten der Formel 2 verstreichen. Obwohl Colin Chapman und Jim Clark begeistert sind, kommt er erst im Jahre 1965 an der Seite Graham Hills bei BRM in die Königsklasse. Sein Debüt entwickelt sich zur Sensation: Auf Anhieb Punkte beim Saisonauftakt in Südafrika, das erste Podium in Monaco. Zweite Plätze in Belgien, Frankreich und den Niederlanden machen die Bilanz von sechs Punktresultaten in sechs Rennen mitsamt vier Podestplätzen perfekt. Doch es kommt noch besser...
Am 12. September 1965 ringt Stewart beim Italien-Grand-Prix in Monza Hill, den WM-Führenden Clark und Ferrari-Star John Surtees nieder. Am Ende ist es ein kleiner Fahrfehler des Teamkollegen eingangs der Parabolica, der den Triumph des Schotten perfekt macht. Zum Saisonende spielt ihm die Technik zu oft Streiche und er beendet das Jahr als Dritter der Gesamtwertung. Trotzdem ist jedem klar, welchem jungen Mann die Zukunft gehören würde.
Zwei weitere Jahre bei BRM bringen bis 1967 wegen chronisch unzuverlässiger Autos nicht den gewünschten Erfolg, obwohl ein weiterer Sieg in Monaco herausspringt und Stewart in einem Lola-Ford um ein Haar die 500 Meilen von Indianapolis (im Bild) gewinnt - verhindert acht Runden vor Schluss und in Führung liegend nur durch eine defekte Motorschmierung. Er tröstet sich mit Erfolgen im Sportwagen.
In der Formel 1 ist Stewart erst 1968 wieder erfolgreich und kristallisiert sich als Regenspezialist heraus. In Zandvoort siegt er im Monsun, auf der Nürburgring-Nordschleife triumphiert er im dichten Nebel - mit vier Minuten Vorsprung auf den Zweitplatzierten. Dass er am Ende nur Vizeweltmeister wird, ist mehrheitlich einer Verletzungspause nach einem Formel-2-Unfall geschuldet. Trotz allem Ehrgeiz: Bei den Fahrerkollegen gilt der umgängliche und kameradschaftliche Stewart stets als gerne gesehener Zeitgenosse.
Doch 1969 wendet sich das Blatt: Nach Siegen in sechs der ersten acht Rennen ist die Meisterschaft früh zugunsten Stewarts entschieden, der sich erstmals zum Formel-1-Weltmeister krönt. Teamkollege Jean-Pierre Beltoise, auf den Matra als französisches Team seine Jetons setzt, fährt der Schotte in Grund und Boden. Die ärgsten "Verfolger" Jacky Ickx und Bruce McLaren kommen am Ende auf 37 respektive 26 Punkte - während Stewart 63 einstreicht.
Es braucht 1970 ein Übergangsjahr nach der Rückkehr zu Entdecker Ken Tyrrell, der mittlerweile sein eigenes Formel-1-Team an den Start schickt. Schlimmer als der sportliche Misserfolg trifft Stewart der Tod eines guten Freundes Jochen Rindt, mit dem er öfter gemeinsam in den Urlaub fährt. Die Tragödie von Monza bestärkt ihn darin, sich für die Sicherheit der Piloten einzusetzen und sogar einen Privatarzt anzuheuern, der ständig mit auf Reisen ist. Stewarts Forderungen: Verpflichtende Sicherheitsgurte und Vollvisierhelme.
Schon in der Saison darauf ist gegen das Gespann Stewart-Tyrrell kein Kraut gewachsen und Stewart setzt zum nächsten Parforceritt an. Wieder gewinnt er überlegen den Titel, während er parallel auch noch die komplette Can-AM-Saison für Teamboss-Legende Carl Haas bestreitet und den dritten Gesamtrang verbucht. Dabei zollt der Körper den ständigen Trips nach Nordamerika Tribut, was Stewart insbesondere im Folgejahr bessere Ergebnisse kostet und sogar einen Grand Prix verpassen lässt.
1973 markiert einen weiteren Höhepunkt in Stewarts Formel-1-Karriere - und gleichzeitig den Schlusspunkt. Auf der Strecke ist er der Konkurrenz überlegen und holt sich den dritten Titel, doch abseits der Bahn plagen ihn die Gedanken über die Sicherheit. Obwohl er den Deutschland-Grand-Prix auf der Nordschleife gewinnt, sei er sich "nie sicher gewesen, ob er nach Hause zurückkehre", sagt Stewart später.
Als mit Francois Cevert der nächste Freund in Watkins Glen sein Leben lässt, beendet Stewart abrupt seine Laufbahn, was er eigentlich erst nach dem US-Grand-Prix geplant hat. Er lässt das Saisonfinale als bereits feststehender Weltmeister sausen und verzichtet damit auf seinen 100. Grand Prix, doch von der Entscheidung lässt sich der Schotte nicht abbringen.
"Ich wäre ein beliebterer Weltmeister gewesen, hätte ich immer gesagt, was die Leute hören wollen. Ich wäre dann vielleicht tot, aber mit Sicherheit beliebter", sagt Stewart (hier mit Cevert) später.
Ein Comeback wagt Stewart erst 1997 - als Teambesitzer. Zusammen mit Sohn Paul und seinem langjährigen Partner Ford stellt er Stewart Grand Prix auf die Beine und gewinnt bis 1999 dank Johnny Herbert ein Rennen. Er verkauft dem Automobilkonzern das Projekt und lässt es in einem Jaguar-Werksteam aufgehen, das sich heute Red Bull nennt.
Ein Legastheniker wird zum überlegenen Weltmeister, doch den Tod zweier Freunde vermag das nicht aufzuwiegen