Helmut Marko exklusiv: "Es ist keine Hinrichtung von Kwjat!"

Helmut Marko erklärt im Interview die Hintergründe des Fahrertauschs bei Red Bull - Druck auf Daniil Kwjat zu hoch, Parallelen zu Romain Grosjean gesehen

(Motorsport-Total.com) - Jean Alesi sprach nach Daniil Kwjats Blackout in der ersten Runde in Sotschi polemisch von einem "Attentat", und wir haben bereits am Montag nach dem Rennen angekündigt, dass eine Red-Bull-interne Fahrerrochade nun sehr wahrscheinlich ist. Die Prognose hat sich bewahrheitet: Bereits beim Grand Prix von Spanien in Barcelona sitzt Kwjat nicht mehr im Red Bull, sondern im Toro Rosso. Max Verstappen hingegen wird vom B- ins A-Team befördert. 'Motorsport-Total.com' hat Helmut Marko am Feiertag in Österreich telefonisch erreicht, um mit ihm die Hintergründe des für viele trotzdem überraschenden Wechsels zu besprechen.

Titel-Bild zur News: Daniil Kwjat, Helmut Marko

Helmut Marko sieht für Daniil Kwjat weiter eine Chance im Red-Bull-Universum Zoom

Frage: "Herr Dr. Marko, in vielen unserer Userkommentare heißt es, dass es unfair ist, Daniil Kwjat nur wegen Sotschi rauszuschmeißen. Aber wenn man seine Leistungen mal genauer anschaut, war es auch ein Performance-Thema, bei dem Sotschi nur der letzte Tropfen im vollen Fass war, nicht wahr?"
Helmut Marko: "Es war in erster Linie eine Maßnahme, um den Druck von Daniil wegzunehmen, der dieses Jahr vorhanden war. Er hat bei weitem nicht die gleiche Performance wie vergangenes Jahr. Er war im Schnitt drei bis fünf Zehntel langsamer als Ricciardo. Im Vorjahr war er auf Augenhöhe."

"Aber was viel schwieriger war: Er war sehr inkonstant, hatte viele Aufs und Abs. Einmal hat es gepasst, wie man in China gesehen hat, aber er hat sich selbst so unter Druck gesetzt, dass diese Schwankungen automatisch kommen. Der Crash in Sotschi ist eine Folge des inneren Drucks, den er sich selbst aufgebaut hat. Der kam nicht von uns. Unser Luxus ist, dass wir die Möglichkeit haben, ihn bei Toro Rosso wieder aufzurichten."

"Romain Grosjean war früher in einer ähnlichen Situation und hatte dann Crash auf Crash. Das wollten wir vermeiden. Auf der anderen Seite gab es eine ziemliche Unruhe bei Toro Rosso zwischen Verstappen und Sainz. Wir haben damit intern mehrere Probleme erledigt. Und wir haben Kwjat nicht entfernt, sondern er ist weiterhin bei uns im Kader. Toro Rosso ist ein gutes Mittelfeldteam, das nur das Potenzial, sowohl fahrer- als auch automäßig, endlich konstant in Punkte umsetzen muss."

Marko: Sainz unter Wert geschlagen

Frage: "Ein positiver Nebenaspekt des Wechsels ist die interne Vergleichbarkeit, weil Sie nun Max Verstappen im gleichen Auto haben wie Daniel Ricciardo. Von dem wissen Sie, wo er steht."
Marko: "Intern sind wir da schon recht weit. Sainz wird in der Öffentlichkeit weit unter Wert geschlagen. Der einzige Fehler, den er macht, ist, dass er am Freitag zu stark beginnt und sich dann nicht weiter steigert. Aber warum die Resultate nicht so da sind? Das ist ganz einfach Pech."

"Wir schicken keine Anti-Verschwörungstheorien hinaus, aber du kannst halt Pech haben. Wir kennen das von Mark Webber, wo Defekte einfach da waren, ohne jeglichen Grund. 2014 hatten wir das mit Vettel auch, als er plötzlich alle Defekte hatte und Ricciardo keine. Das ist eben einmal so im Rennsport. Davon war Sainz wesentlich mehr betroffen. Wenn er einmal zwei, drei Rennen hat, in denen er ohne Probleme ins Ziel kommt, dann wird das auch bei Sainz den nötigen Push verursachen."

Frage: "Am Sonntagmorgen vor dem Rennen in Sotschi gab es ein Gespräch zwischen Ihnen und Max Verstappen..."
Marko: "Da sehen Sie mal, wie oberflächlich die Leute sind!"


Fotostrecke: Red-Bull-Junioren in der Formel 1

Frage: "War das nur Frühstück?"
Marko: "Nein. Es war ein konkretes Gespräch, weil am Red-Bull-Ring die Kart-Situation nicht zufriedenstellend ist. Die Strecke befindet sich in der ehemaligen Schikane, ein Provisorium mit Reifenstapeln. Wir suchen eine Lösung für die Zukunft, um dort eine adäquate Kartstrecke zu haben. Verstappen kennt sich aus, er kennt alle Kartstrecken Europas. Er hat für mich recherchiert und unter anderem Unterlagen und Fotos von verschiedenen Strecken gebracht. Das war unser Gespräch."

Frage: "Verstappen wird von anderen Teams umworben, immer wieder ist von Ferrari die Rede. Inwieweit waren Sie unter Druck, den Verstappens die Perspektive zu bieten, dass es sehr zeitnah zu Red Bull Racing gehen wird?"
Marko: "Im Gegensatz zu vielen unserer Konkurrenten suchen wir die Fahrer aus, die wir wollen, und nehmen nicht die, die übrig bleiben. Wir machen, wie man weiß, immer langfristige Verträge. So gesehen war da kein Handlungsbedarf."

"Aber wie Sie eingangs völlig richtig gesagt haben: Wir haben jetzt Ricciardo und Verstappen nebeneinander, und wir können genau beurteilen, wie sich die beiden gegeneinander bewähren. Und wir haben Kwjat gegen Sainz. Das macht die Zukunftsentscheidungen leichter. Aber um zur Frage zurückzukommen: Alle vier genannten Fahrer haben langfristige Verträge."

Kein Ultimatum von Verstappen-Seite

Frage: "Das heißt, es gab von Verstappen-Seite kein Ultimatum? In der Form: Tut jetzt was für uns, sonst sind wir weg!"
Marko: "Nein. Das wäre nicht möglich gewesen."

Frage: "Vor Barcelona darf nicht getestet werden. Inwieweit können sich Verstappen und Kwjat auf ihre neuen Autos zum Beispiel im Simulator vorbereiten?"
Marko: "Verstappen sitzt bereits im Simulator. Er wird auf Barcelona vorbereitet. Kwjat sitzt morgen im Simulator und bereitet sich mit Toro-Rosso-Mapping vor. Das ist glaube ich nicht so schwierig. Sie dürfen nicht vergessen: Verstappen ist eineinhalb Jahre in der Formel 1, Kwjat zweieinhalb Jahre. Das sind keine Rookies mehr."

Helmut Marko, Franz Tost, Jos Verstappen

Man ist sich einig: Helmut Marko, Franz Tost und Managervater Jos Verstappen Zoom

"Der Grund, warum wir es jetzt gemacht haben, ist, dass wir den Druck von Kwjat nehmen wollten, gerade vor Strecken wie Montreal und Monte Carlo. Die verzeihen keine Fehler. Also ist es besser, sich in Barcelona an das jeweilige neue Auto zu gewöhnen, denn dort gibt es Auslaufzonen."

Frage: "Ich habe Daniil Kwjat vor dem Start in Sotschi beobachtet, bei der Nationalhymne. 60.000 russische Fans, Präsident Putin ist da - mich erinnert das alles ein wenig an die brasilianische Nationalmannschaft vor dem 1:7 im WM-Halbfinale gegen Deutschland."
Marko: "Wenn es nicht Russland gewesen wäre, wäre es für ihn vielleicht einfacher gewesen. Aber er hatte den Druck aus der ersten Kurve in Schanghai, wo er aus meiner Sicht nichts falsch gemacht hat. Ein viermaliger Weltmeister hat ein anderes Standing als ein Rookie. Das war sicher ein Grund."

"Nur: Die Folgen sind die gleichen. Er steht jetzt wahnsinnig unter Druck, das hat ihn mitgenommen. Es war sein Heimrennen. Nachdem er hoffnungslos hinten war, sind die Leute rausgegangen. Und leider war es so: Er hat das Rennen von Vettel zerstört, er hat das Rennen von Ricciardo zerstört und er hat das Rennen von Sainz zerstört. Alles nicht bewusst natürlich, aber die Folgen sind katastrophal. Und das kannst du nicht aus dem Kopf eliminieren."

Zweite Chance bei Toro Rosso

Frage: "Ich fasse mal polemisch zusammen: Kwjat wurde nicht fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel, sondern hat noch seine Chance im Red-Bull-Universum?"
Marko: "Ganz klar. Sonst hätten wir ihn ja nicht zu Toro Rosso gesetzt."

Frage: "Haben Sie ihn eigentlich persönlich informiert?"
Marko: "Ja."

Frage: "Wie schwierig wird es jetzt für Franz Tost, Kwjat psychologisch aufzurichten? Denn auch wenn Sie sagen, dass er zu Toro Rosso gesetzt wird, um Druck wegzunehmen, wird er dazu eine andere Privatmeinung haben..."
Marko: "Franz Tost hat Kwjat vergangene Woche in einem Interview sehr gelobt. Er kennt Kwjat sehr gut, eigentlich fast aus dem FF, denn er ist bei ihm zuerst in die Formel 1 eingestiegen. Beide Fahrer behalten ihre Physios, sodass das Betreuerumfeld gleich bleibt."

"Und Toro Rosso und speziell Franz haben das Know-how, diese Situation entsprechend zu meistern. Und nochmal: Die Bedingungen sind in Barcelona viel einfacher als wenn wir es in Monte Carlo machen hätten müssen. Vielleicht nach einem weiteren Zwischenfall."

Frage: "Möchten Sie noch etwas ergänzen?"
Marko: "Es ist keine Hinrichtung von Kwjat, sondern eine tolle Chance, seine Karriere und sein Talent weiterhin unter Beweis zu stellen. Sie wissen, wie es damals bei Grosjean war. Er hatte einen Crash nach dem anderen. Klar sind die Fahrer alle verschieden, aber von der Sensibilität her sind sich die beiden irgendwie ähnlich."