Reifenaffäre: Droht in Indianapolis eine Absage?
Noch ist nicht klar, wie sich die Michelin-Probleme auf den US-Grand-Prix auswirken werden, es stehen aber viele Fragezeichen im Raum
(Motorsport-Total.com) - Nachdem die Freien Trainings gestern in Indianapolis zu einer reinen Farce verkommen waren, nahmen die Michelin-Teams trotz aller Sicherheitsbedenken, über die wir bereits ausführlich berichtet haben, wie gewohnt am Qualifying teil. Dennoch ist die Affäre noch lange nicht ausgestanden - und im unglücklichsten Fall droht sogar eine Absage des neunten WM-Laufs 2005.
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Michelin hat den wahrscheinlich längsten Rennsonntag des Jahres vor sich
Zwar gilt es in Fachkreisen als äußerst unwahrscheinlich, dass heute nicht gefahren wird, doch gerade in der Königsklasse des Motorsports ist nichts unmöglich. Fakt ist, dass Michelin Bedenken hat, was die Sicherheit der Reifen auf die Renndistanz von 73 Runden angeht, Fakt ist aber auch, dass bis jetzt noch keine plausible Lösung am Tisch liegt, wie diese Bedenken ausgeräumt werden könnten. Vor Ort machen sich diesbezüglich viele schlaue Köpfe Gedanken, eine Lösung wird aber erst knapp vor dem Start erwartet.#w1#
Michelin riet zu hohem Reifendruck und bestimmtem Sturz
Michelin hatte bekanntlich im Zuge der Untersuchungen der Toyota-Reifenschäden vom Freitag bei mehreren Teams bedenkliche Zustände geortet, was die Reifen angeht, und für heute strikte Empfehlungen für die Verwendung der Pneus erlassen. So durften die Teams in den Freien Trainings nur maximal zehn fliegende Runden durch die Steilkurve absolvieren und mussten daher immer wieder durch die Boxengasse fahren, um wieder in das langsamere Infield zu gelangen. Außerdem riet Michelin zu einem möglichst hohen Reifendruck und zu konservativen Radsturzeinstellungen.
Viele Insider sind der Meinung, dass mit diesen Maßnahmen die Sicherheit für das Rennen gewährleistet sein sollte, doch die Affäre ist inzwischen längst zu einem Politikum geworden. Michelin möchte zwecks Risikomanagement sicherheitshalber neue Reifen aus Europa einfliegen lassen, die dem Stand des Grand Prix von Spanien entsprechen. Dagegen freilich wehren sich Bridgestone und deren Partner, schließlich würde dies gegen das Reglement verstoßen. Offenbar hat Michelin zu progressive Gummimischungen für Indianapolis bereitgestellt, wofür man nun bezahlen muss.
Seitens der Michelin-Teams wird derzeit mit der FIA, Bridgestone, Ferrari, Jordan und Minardi verhandelt, um doch andere Reifen als an den Trainingstagen einsetzen zu dürfen, während parallel in Forschungseinrichtungen in South Carolina und Clermont-Ferrand intensiv gearbeitet wird. Offenbar sind am Samstagnachmittag einige Michelin-Ingenieure samt stichprobenartig ausgewählten Reifen aus Indianapolis zu diesen Einrichtungen geflogen, um über Nacht doch noch eine Lösung zu finden.
Coulthard macht sich für neue Reifen stark
Sollte sich am derzeitigen Wissensstand nichts ändern, wäre aber aus Sicht von Michelin ein Reifenwechsel die einzig sichere Variante, weshalb David Coulthard, einer der Direktoren der Fahrergewerkschaft, eine Unterschriftenaktion initiiert hat, mit der er eine Absage des Rennens vermeiden will. Angeblich kann sich Michelin vorstellen, in der Startaufstellung alle Bridgestone-Autos vor zu lassen, wenn man dafür die eingeflogenen Pneus verwenden darf.
Eines steht jedenfalls fest: "Mit den Informationen, die wir im Moment haben, können wir unseren Teams nicht garantieren, dass ein 73-Runden-Rennen reibungslos verlaufen wird", erklärte Nick Shorrock, Formel-1-Verantwortlicher des französischen Unternehmens, gegenüber 'Autosport-Atlas'. "Seitens der FIA haben wir auch noch keine Information erhalten, bis auf jene, dass wir unabhängig von unserem weiteren Vorgehen bis 12:30 Uhr am Sonntag gegen keine Regel verstoßen." Dann nämlich müssen die Autos auf die Startaufstellung.
Entscheidung wird erst gegen Sonntagmittag fallen
McLaren-Mercedes-Teamchef Ron Dennis rechnet nicht vor 11:00 Uhr Ortszeit mit einer Entscheidung, will aber an einem Prinzip ungeachtet aller Diskussionen festhalten: "Die Sicherheit der Fahrer kommt an erster Stelle", wie er gegenüber Journalisten sagte. "Ausgelöst wurde das Problem dadurch, dass die Reifen zu wenig Luftdruck hatten, und das wurde wiederum angestoßen von einem Team (Toyota; Anm. d. Red.), welches sich außerhalb der empfohlenen Reifendruckvorgaben bewegt hat."
Der Brite ist auch eine der tragenden Figuren hinter dem Vorschlag, die Safety-Car-Regel für den US-Grand-Prix so anzupassen, dass nach einer etwaigen Rennfreigabe drei Runden unter gelben Flaggen, aber ohne Safety-Car gefahren werden sollen. Damit würde man den Michelin-Piloten Zeit geben, die Reifen ordentlich auf Temperatur und auf Druck zu bringen. Ein plötzlicher Geschwindigkeitsanstieg ohne angemessene Aufwärmphase könnte fatale Folgen haben, wie man bei Ralf Schumacher am Freitag gesehen hat. Auch hierfür wäre aber die Zustimmung der Bridgestone-Fraktion notwendig.
Während noch nicht bekannt ist, ob Bridgestone, Ferrari und Jordan der Konkurrenz im Sinne einer reibungslosen Rennaustragung entgegenkommen würden, hat Minardi-Teamchef Paul Stoddart bereits angekündigt, dass er möglicherweise sein Veto einlegen würde. Der Australier betonte zwar in diversen Interviews, dass seine Sympathie bei Michelin läge, er sich aber trotz allem überlegen will, auf der Einhaltung der Regeln zu bestehen - quasi aus Rache für die Affäre um den Einsatz seiner Boliden beim Saisonauftakt in Australien.
Erinnerungen an Australien werden wach
"Das letzte Mal, dass so eine Anfrage von einem Team gestellt wurde", erklärte er gegenüber 'Crash.net', "man wird sich daran erinnern, war in Melbourne, als ich zehn Unterschriften hatte, aber dann wies die Rennleitung den Antrag ab. Sie waren prinzipiell meiner Meinung, aber es entsprach eben nicht dem Reglement. Auch dieser Fall liegt eindeutig außerhalb des Reglements, daher bin ich gespannt, was passieren wird. Ich halte Michelin für eine großartige Firma, aber aus dieser Situation sehe ich keinen Ausweg."
Inzwischen ist durchgesickert, dass bei weitem nicht alle Michelin-Teams überhaupt von den Problemen betroffen sind - das BMW WilliamsF1 Team und Sauber-Petronas stellten beispielsweise überhaupt keine Unregelmäßigkeiten fest, was den Reifendruck angeht. Auch McLaren-Mercedes soll sich Gerüchten zufolge im grünen Bereich bewegen. Sicher ist, dass Toyota massive Probleme mit den schnellen Passagen auf dem Oval des Kurses hat, ebenso wie Red-Bull-Cosworth.
Michelin muss nun über Nacht alle Ressourcen investieren, um mit den bestehenden Reifen den Grand Prix der USA bestreiten zu können. Gleichzeitig werden vorbeugend - falls dem Wechselvorschlag doch zugestimmt werden sollte - schon neue Reifen aus Europa eingeflogen. Am wahrscheinlichsten ist, dass es morgen Vormittag zu einer Besprechung mit den Teams kommen wird, in denen sehr konservative Einstellungsvorgaben empfohlen werden. Dass es tatsächlich zu einer Absage des Rennens kommen könnte, erachten die meisten Experten als undenkbar.