Schnellstes Auto, falscher Plan: McLarens Strategie-Dilemma kostet Siegchance
McLaren hatte in Suzuka das schnellste Auto, doch Verstappen gewann trotzdem - Die Daten zeigen: Mit einer besseren Strategie wäre der Sieg möglich gewesen
(Motorsport-Total.com) - Das schnellste Auto des Formel-1-Wochenendes in Japan hat den Grand Prix am Sonntag nicht gewonnen: Die McLaren-Piloten Lando Norris und Oscar Piastri belegten lediglich die Plätze zwei und drei. Doch woran lag es wirklich, dass Max Verstappen im unterlegenen Red Bull dennoch triumphieren konnte?

© LAT Images
McLaren brachte Lando Norris in Japan mit der Strategie um eine Siegchance Zoom
Ein Blick in die Daten unseres Technologiepartners PACETEQ offenbart zwei grundlegende Schwächen bei McLaren - ein nicht optimales Qualifying sowie eine unglückliche Rennstrategie. Beginnen wir mit dem Qualifying: Max Verstappen sicherte sich die Poleposition mit einer Fabelrunde quasi aus dem Nichts. Doch dazu wäre es gar nicht gekommen, hätten die McLaren-Fahrer ihre besten Sektorzeiten kombiniert.
Addiert man die jeweils besten Sektorzeiten aus allen drei Qualifying-Sessions, hätte Oscar Piastri mit einer perfekten Runde die Poleposition errungen - mit einem Vorsprung von 0,050 Sekunden auf Teamkollege Lando Norris. Verstappen wäre in diesem Fall nur auf Startplatz drei gelandet - mit einem Rückstand von 0,067 Sekunden. Damit wäre ein Sieg für Red Bull am Sonntag nahezu ausgeschlossen gewesen, zumal der McLaren das schnellere Rennauto war.
Warum der Japan-GP für Verstappen eigentlich nicht zu gewinnen war
Doch selbst mit den Startplätzen zwei und drei sowie einer Führung von Verstappen nach dem Start hätte McLaren den Sieg noch holen können - denn mit zwei Autos hatte man einen strategischen Vorteil, den man allerdings ungenutzt ließ.
Vor dem Rennen lag die Erwartung nahe, dass einer der beiden McLaren früh einen Undercut gegen Verstappen versuchen würde. Im Erfolgsfall wäre der jeweilige Fahrer am Red Bull vorbeigezogen, im Falle eines Misserfolgs hätte Verstappen zumindest reagieren und ebenfalls früh stoppen müssen.
Das hätte dem zweiten McLaren die Möglichkeit eröffnet, einen langen Overcut zu fahren, um sich ein deutliches Reifendelta gegenüber Verstappen zu erarbeiten - mit dem Ziel, den Niederländer gegen Rennende zu überholen. Theoretisch hätte Verstappen mit seiner etwas schlechteren Rennpace also höchstens einen McLaren schlagen können - aber nicht beide. In der Praxis war es dann doch nicht ganz so einfach.
Norris hinterfragt: Warum kein Undercut gegen Verstappen?
"Ich weiß es nicht. Ich denke, ich hätte versuchen sollen, einen Undercut gegen ihn zu machen", fragte sich Lando Norris nach dem Rennen und einer möglicherweise verpassten Siegchance. "Die Sache ist, dass es immer das Risiko eines Safety-Cars gibt und so weiter." Doch was sagen die Daten?
Im ersten Stint waren die Abstände im Feld so gering, dass es kaum Zeitfenster gab, in denen man durch einen Undercut ohne große Zeitverluste wieder auf die Strecke hätte zurückkehren können. Viel wahrscheinlicher war es, dass man nach einem frühen Boxenstopp im Verkehr feststeckt - trotz frischer, schnellerer Reifen.
Die Gefahr, durch einen verfrühten Undercut Positionen an Ferrari und Mercedes zu verlieren, war für McLaren erheblich. Zudem hätte Verstappen womöglich gar nicht reagieren müssen, wenn der McLaren ohnehin im Verkehr festhängt und seine Pace nicht ausspielen kann.
Stroll, Russell & Co.: Undercut in Suzuka wirkungslos
Hinzu kommt: Bereits früh im Rennen zeigte sich, dass der Undercut praktisch keine Wirkung entfaltete. Lance Stroll war nach dem Start auf den Soft-Reifen der erste Fahrer, der an die Box kam, und wechselte in Runde neun auf harte Reifen. Normalerweise löst ein früher Boxenstopp im Mittelfeld eine Kettenreaktion aus, weil sich andere Fahrer gegen einen Undercut absichern wollen - doch nicht so in diesem Fall.
Auf den neuen Reifen fuhr Stroll zunächst exakt dieselben Zeiten wie Jack Doohan - sein strategischer Rivale, da auch der Alpine auf Soft gestartet war -, obwohl der Australier auf deutlich älteren Reifen unterwegs war. Der Reifenverschleiß in Japan war so gering, dass der Undercut kaum Wirkung zeigte, weil selbst ältere Reifen noch konkurrenzfähig blieben. Doohan musste daher erst in Runde 15 stoppen, um Strolls Undercut abzuwehren - mit Erfolg.
Ähnliches zeigte sich später bei George Russell, dem ersten Topfahrer an der Box, der einen Undercut gegen Charles Leclerc versuchte. Erst in seiner sechsten Runde mit frischen Reifen konnte er eine schnellere Zeit als Mercedes-Teamkollege Kimi Antonelli setzen - obwohl dieser noch immer auf seinen inzwischen über 20 Runden alten Startreifen unterwegs war.
Hat McLaren am Funk geblufft?
Was bedeutet das für die Strategie von McLaren? In Runde 18 gab es den Funkspruch von Renningenieur Will Joseph an Lando Norris: "Wir kommen an die Box, um Verstappen zu überholen." Die Antwort von Norris: "Bestätigt." Ein klarer Dummy, denn zu diesem Zeitpunkt wäre Norris hochgerechnet im dichten Verkehr wieder auf die Strecke zurückgekommen - und Red Bull wusste das.
Am Ende von Runde 21 kamen schließlich Norris und Verstappen gleichzeitig an die Box. Dabei stellt sich die Frage, ob ein Undercut seitens McLaren in Runde 20 nicht die cleverere Wahl gewesen wäre? Die Daten der Undercut-Fahrer sprechen jedoch eine deutliche Sprache: Ein Undercut hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht funktioniert - obwohl der Abstand zwischen Norris und Verstappen vor dem Reifenwechsel lediglich 1,5 Sekunden betrug.
Auch Norris äußert eine ähnliche Einschätzung: "Ehrlich gesagt, denke ich, dass der Undercut hier nicht einfach ist, weil die harten Reifen im ersten Sektor nicht mega sind. Also ob das überhaupt funktioniert hätte, bin ich mir nicht sicher. Und Max hatte immer noch einen kleinen Puffer zu mir. Selbst wenn ich also eine gute Runde hingelegt habe, glaube ich nicht, dass es gereicht hätte, um überhaupt vorbeizukommen."
Kein Overcut: McLaren macht gleichen Fehler wie im Vorjahr
Dass McLaren nicht auf den Undercut mit Norris setzte, ist aus Datensicht nachvollziehbar. Doch warum verzichtete man auch auf einen Overcut und stoppte stattdessen in der gleichen Runde wie Verstappen? "Ich denke, ich hätte länger fahren können, denn ich glaube nicht, dass ich dadurch eine Position verloren hätte", meint Norris nach dem Rennen. "Das war also nicht ausgeschlossen, aber ja, ich denke, wir hätten einfach etwas Anderes versuchen sollen. Wir werden darüber reden."
Teamchef Andrea Stella erklärt: "Ich denke, das Problem für Lando wäre, dass er Positionen an einige andere Autos verloren hätte, darunter auch an Oscar. Denn sie hatten an der Box angehalten und waren schneller, und wenn man auf einem Medium 20 Runden draußen bleibt, kann man nicht schneller sein als jemand, der auf einem harten Reifen angehalten hat."
Die Daten stützen Stellas Aussage allerdings nur bedingt, denn die Undercut-Fahrer waren in der Regel erst nach fünf Runden schneller als die Konkurrenz auf alten Reifen. Interessant ist in diesem Zusammenhang: Schon beim Suzuka-Rennen 2024 tappte McLaren in dieselbe Falle, als man in der gleichen Runde wie Charles Leclerc an die Box ging, anstatt einen Overcut zu riskieren. Damals verlor man aller Wahrscheinlichkeit nach ein Podium und wurde am Ende nur Fünfter hinter beiden Ferraris.
Daten: Norris hätte sich langen Overcut leisten können
Das Argument, dass Norris eine Position gegen Piastri verloren hätte, wirkt zudem wenig überzeugend - man hätte die Position im Team wieder zurücktauschen können, um Norris die Möglichkeit zu geben, Verstappen anzugreifen. Es stellen sich also zwei zentrale Fragen: Wie stark wäre Norris' Pace in freier Luft auf alten Mediums gewesen? Und hätte er ein Reifendelta herausfahren können, das groß genug gewesen wäre, um Max Verstappen zu überholen?
"Ich denke, dass der Overcut gut funktioniert, wenn man weiß, dass man gewinnt - wie in Barcelona oder in Suzuka in der Vergangenheit", sagt Stella. "Wenn man weiß, dass man vier, fünf Runden Reifendelta gewinnt, und dann, wenn man an die Box kommt, selbst wenn man hinter einem Auto fährt, das vorher in der Box war, wird man ihn überholen, weil man bessere Reifen hat. Aber hier bauen die Reifen von einer Runde zur anderen fast überhaupt nicht ab."
Ein Blick auf die Saisondaten und die Longruns vom Freitag zeigt: McLaren wäre mit freier Fahrt im Rennen vermutlich zwei bis drei Zehntel schneller als Red Bull gewesen. Hochgerechnet hätte Norris also rund zwölf Runden länger draußen bleiben können, ohne durch einen Undercut von Leclerc oder Russell gefährdet zu sein.
Zwölf Runden - das ist ein gutes Stichwort. Im teaminternen Duell zwischen Russell und Kimi Antonelli bei Mercedes kam der Italiener genau zwölf Runden nach Russell an die Box. Im zweiten Stint war Antonelli mit seinen frischen Reifen rund eine halbe Sekunde pro Runde schneller.
Hätte Norris Verstappen mit einem Overcut schlagen können?
Eine Overcut-Strategie setzt voraus, dass man auf der Strecke überholen kann. Allerdings war der Reifenverschleiß in Japan so gering, dass die Reifendeltas meist nicht ausreichten, um einen Positionswechsel durchzuführen. Stella sprach von einem nötigen Pace-Unterschied von "sieben bis acht Zehnteln", um ein Auto zu überholen.
Ein Overcut von zwölf Runden wie bei Antonelli hätte Norris bereits ein Reifendelta von etwa einer halben Sekunde pro Runde gegenüber Verstappen eingebracht. Hinzu kommt der ohnehin schnellere McLaren mit einem Vorteil von zwei bis drei Zehnteln. Außerdem neigt der McLaren dazu, gegen Rennende stärker zu werden. Hochgerechnet hätte Norris also das nötige Pace-Delta für ein Überholmanöver aufbauen können.
Die entscheidende Frage lautet: Hätte Norris durch den längeren ersten Stint auf alten Reifen so viel Zeit auf Verstappen verloren, dass es am Ende lediglich für eine Aufholjagd, aber nicht für ein Überholmanöver gereicht hätte? Simuliert man die Daten, wäre Norris mit einem Boxenstopp in Runde 33 kurz vor Leclerc und etwa 11,5 Sekunden hinter Verstappen wieder auf die Strecke gekommen - bei noch 20 verbleibenden Runden.
Rechnet man nun mit einem möglichen Pace-Delta von acht Zehnteln pro Runde, das für McLaren realistisch gewesen wäre, ergibt das einen Aufholwert von 16 Sekunden. Norris hätte Verstappen also eingeholt - und vermutlich auch eine realistische Überholchance gehabt. Doch das ist nur die Theorie, die in der Praxis bekanntlich ganz anders aussehen kann.
Auch wenn man sich darüber streiten kann, ob Norris das Rennen mit einer Overcut-Strategie tatsächlich gewonnen hätte, steht fest: McLaren hat sich zumindest um eine vielversprechende Siegchance gebracht mit offenem Ausgang. Denn mit dem Boxenstopp in der gleichen Runde wie Verstappen war klar, dass das nötige Pace-Delta für ein Überholmanöver nicht vorhanden sein würde - und man sich mit Platz zwei de facto zufrieden gab.
Warum kam Piastri überhaupt vor Norris an die Box?
Dass Oscar Piastri vor Norris an die Box kam und somit praktisch einen Undercutversuch gegen den eigenen Teamkollegen startete, verwunderte zudem viele Fans und Experten. Teamchef Stella erklärt: "Ich glaube, wenn wir zuerst mit Lando gestoppt hätten, hätten wir Oscar nicht gleichzeitig an die Box holen können, und das wäre ein Problem für Oscar gewesen."
"Denn insbesondere Russell war eine Gefahr, der [mit einem Undercut] an die Box kam und den mussten wir abdecken", so der Italiener weiter. Wie sich im Nachhinein herausstellte, war die Gefahr eines erfolgreichen Undercuts jedoch das gesamte Rennen über relativ gering - etwas, das McLaren während des Rennens offenbar überschätzte.
Für Red Bull war jedenfalls klar, Verstappen eine Runde nach Piastri an die Box zu holen, da man mit einem anschließenden Undercutversuch von Norris rechnete. "Es war schwierig, weil der Undercut heute nicht so stark war", erklärt Red-Bull-Teamchef Christian Horner. "McLaren hat sich dafür entschieden, Oscar zuerst an die Box zu holen."
"Aber davor haben sie einen Dummy mit Lando gemacht, der für uns wirklich keinen Sinn ergeben hat. Denn er wäre einfach im Verkehr herausgekommen. Also haben wir uns an unseren Plan gehalten. Und es war klar, dass sie Lando in der nächsten Runde an die Box bringen würden. Es ging also darum, Lando abzudecken."
Eine noch ausführlichere Analyse der McLaren-Strategie in Japan sowie alle Daten zum Formel-1-Wochenende gibt es im Übrigen auf dem YouTube-Kanal von Formel1.de. Dort wirft Datenexperte Kevin Hermann mit der PACETEQ-Strategiesoftware OneTiming auch einen Blick auf die Pace der anderen Autos sowie auf Yuki Tsunodas Performance bei seinem ersten Wochenende für Red Bull. Hier geht's direkt zum Video.


Neueste Kommentare